Der Koffer
Nachschlagewerke, Biografien. Sonnie greift wahllos eines heraus und liest: »Sie widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten, und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich die frei gewordenen Frauen versagten.« Sie klappt das Buch zu. Kopfschüttelnd.
Rhett sucht. Rhett findet. Ein Jazzlexikon. Er zieht es aus dem Regal. Er leckt den Finger an. Er blättert im Namensverzeichnis.
»Was mich wundert …«, sagt er. »Kein Fan will eine unsignierte Autogrammkarte.«
»Wer denn sonst? Ein Verwandter?«
»Niemand. Oder … der Autogrammkartendrucker. Oder der Plattenverlag. Oder der Künstler selbst.«
Sonnie läuft zurück. Sie wühlt wieder im Koffer, von einer Ahnung erfasst. Wie ist gleich der Name des Mannes?
»Causher, Chandler, Cojak, Hier! Cohen! Wie heißt der mit Vornamen? Alf?«
»Nee. Jacques. Jacques Cohen. Ist das nicht ein jüdischer Nachname?«
»Alf hab ich. Und Jack. Jack Cohen … Trompeter … geboren 1901 in Detroit … Dixieland Beat … Chicagozwischen 1918 und 1928 … dann erste Zusammenarbeit mit Duke Ellington.«
Sonnie hält jetzt einen der Briefbögen in der Hand, in heller Aufregung.
»Rhett! Hier auf dem Briefpapier steht derselbe Name … Jacques Cohen … und auf dem Kuvert auch! Das ist der Koffer von dem Trompeter! Aber das muss ein anderer Cohen sein. Meiner ist glaub ich Franzose, hier sind Briefe in Französisch.«
»… danach ging er nach Europa.«
Sonnie hat Rhett angesteckt. Er schlägt das Buch wieder zu. Er stellt es weg. Hastig. Er greift ein anderes aus dem Regal. Eben war der Koffer noch ein Keil. Nun bringt er sie einander näher. So schaltet man den Rivalen aus, denkt Rhett. Man macht ihn sich zum Freund.
Rhett und Sonnie suchen.
Sonnies Gesicht ist nah am Papier.
Rhett liest mit ausgestreckten Armen.
Sie lesen die Namen gemeinsam vor.
Cohen, Axel.
Cohen, Jack.
Cohen, Rudy.
»Schlag Jack auf«, drängt Sonnie, »Seite 35, 75, 293.«
Sein Finger fährt stockend über die Zeilen. Sie nimmt seine Hand weg, die den unteren Teil des Textes abdeckt. Dass sie mit ihm leben will, heißt nicht automatisch, dass sie in Zeitlupe mit ihm leben will.
»Hier … Jack Cohen! Jack kann die englische Form von Jacques sein!«
»Er wird nur kurz erwähnt, im Zusammenhang mit einem Max R. Jackson 1929.«
»Wenn er 1929 schon Musik gemacht hat, dann ist er zumindest kein Teenager mehr.«
»Na, was denkst du denn, warum seine Möbel auf der Straße stehen?«
»Meinst du, er ist gestorben?«
Fingergerangel. Jeder will zuerst.
»Hier! Ich hab’s!« Sonnie liest vor: »Jack Cohen, oder, wie er sich lieber nannte, Jacques Cohen …«, sie wechseln einen triumphierenden Blick, »… ist den europäischen Jazzfans bekannt durch seine Zusammenarbeit mit Duke Ellington in den Mittdreißigern in Europa. 1939 tourte er mit ›Willie’s Hot Chocolate Road Band‹ durch Harlem …«
»Das waren die heißen Zeiten«, sagt Rhett und legt eine schwelgerische Miene auf, »damals hat’s noch gebrummt in Harlem. Cotton Club, Lenox Lounge, Showman, natürlich das Apollo-Theater … Hier unten geht’s weiter!«
Er ist stolz, etwas gefunden zu haben, das Sonnie entgangen ist.
»›Cohen arbeitete achtzehn Jahre in Europa und kam dann zurück nach New York, wo er jedoch nicht an alte Erfolge anknüpfen konnte.‹ Von wann ist das Buch?«
»Warte … 1988.«
»›Derzeit betreibt er im Washington Square Park einen Hot-Dog-Stand. Er spart darauf, zurück nach Paris zu gehen, wo seine Familie lebt …‹ Frag doch deinen Penner! Der hängt doch da immer rum, im Park. Vielleicht kennt er ja den Trompeter.«
»Ezekiel. Den könnt’ ich fragen. Obwohl, das ist ja schon fast zwanzig Jahre her …«
Sonnie verzeiht Rhett den Penner. Er hat eben diese arrogante Haltung ihren Freunden gegenüber. Und er hat ja Recht. Ezekiel ist ein Penner. Nur, diese Geringschätzung! Dieser Upper-Eastside-Snobismus! Vielleicht ist es auch Neid. Er selbst hat keine Freunde. Wenn sie ihn nach Freunden fragt, murmelt er etwas wie: Sind weggezogen … gestorben … Kontakt verloren.
Dann wieder, nur Sekunden später, fühlt sich Sonnie Rhett nahe. Er Sherlock Holmes, sie Doktor Watson. Sie küsst ihn. Er küsst zurück. Sie küssen sich mit der Aufgeregtheit von Pfadfindern. Es ist fast wie früher, als sie fürchten mussten, ertappt zu werden.
»Mist, schon so spät«, sagt Rhett. Er geht duschen. Sonnie wühlt weiter, den Stempel seines
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