Der Koffer
wie bewölkt. Sie kann ihr Gesicht nicht sehen. Er muss kaputt sein, denkt sie. Sie packt den Koffer wieder ein, ein Ziehen in den Gliedern, ein Pochen im Daumen, ein Stechen in den Schläfen.
Jetzt bloß keine Grippe, denkt sie. Nicht auch noch das. Wo ist noch der Brief mit der Adresse? Wie alt ist der Besitzer des Koffers? Hat er schon gelebt, damals, 1909, hat er im Konzertsaal gesessen, als Mahler Rachmaninoff dirigierte?
Bullenentsamer müsste man sein, denkt Rhett. Und er stellt sich vor, wie er in weitschaftigen Gummistiefeln zum Gehege geht, eine künstliche Vagina in der Hand, ein üppiges Füllhorn. Er läuft breitbeinig, wegen der Stiefel und weil er ein Cowboy ist. Er knurrt, pfeift und flüstert durch den Zaun zu dem Bullen, um ihn sexuell zu erregen. Er führt ihm eine Kuh zu, er drückt ihm den eckigen Kuharsch ins Maul. Der Bulle wiegt dreitausend Pfund. Er schnaubt. Er trippelt hin und her. Noch ist er nicht geil. Rhett zieht sich nun einen Gummihandschuh an, einen mit einem langen Schaft. Er reibt den Schaft mit Vaseline ein. Er steckt die behandschuhte Hand tief in den After des Bullen, so hat er es einmal im Fernsehen gesehen. Rektale Stimulation heißt das. Rhett bewegt den glitschigen Gummiarm im Rektum des Bullen vor und zurück. Eine warme zottige Grotte.
Er ekelt sich gar nicht. Der Bulle springt nach oben, sein monströser Penis richtet sich auf. Der Bulle will die Kuh besteigen. Aber Rhett ist schneller. Noch bevor der Bulle in die Kuh eindringen kann, streift ihm Rhett die künstliche Vagina über. Das ist eine knifflige Sache. Aber Rhett ist stark. Rhett ist erfahren. Es klappt. Rhett fängt den Samen ab. Einen Liter dampfenden, duftenden Bullensamen. Der Samen reicht, um 1300 Kühe zu schwängern. Der Stallgeruch. Der Pissgeruch. Der Geruch der Männlichkeit.
»Komm her, bitte«, ruft Sonnie.
Rhett rafft sich auf. Kommt. Hockt sich neben Sonnie.
Er hebt ihre Haare hoch.
Er küsst sie hinters Ohr.
Er streichelt ihren Arm.
Sonnie greift nach hinten, umschließt seinen Hals mit den erhabenen Wirbeln. Es muss furchtbar sein, allein zu sterben. Sie spürt den Abdruck seines harten kleinen Mundes. Es muss furchtbar sein, allein zu sterben, denkt sie. Deswegen tun sich so viele Menschen zusammen, die gar nicht zusammenpassen.
One should not live alone.
Da war was mit einem Koffer. Wo war das nur? In dieser Show. Die Show im deutschen Fernsehen. Wie hieß der Showmaster noch? Dieser dünne Holländer. Ehemänner müssen raten, was die Frau in ihren Urlaubskoffer packen würde. Ehefrauen müssen vorhersagen, wie der Mann den Satz beenden würde.
War das im Ost-Fernsehen oder im West-Fernsehen?
»Außenseiter Spitzenreiter«, murmelt Sonnie. »Nein, Rudi Carrell.«
»Hast du was gesagt?«
Auf einmal wird Sonnie die Tatsache bewusst, dass Rhett und sie aus verschiedenen Teilen der Welt stammen, aus verschiedenen Generationen, von verschiedenen Kontinenten, und nun in einer Wohnung zusammengepfercht sind. Viel lieber hätte sie jetzt jemanden an ihrer Seite, der sagt: Ach, herrlich, weißt du noch? Am laufenden Band ? Ein Kessel Buntes ? Sonnie sieht die hagere Gestalt von Rudi Carrell, so wie sie gestern den Großvater gesehen hat. Carrells Lächeln. Sein Gaulgebiss. Seine alberne Showmaster-Frisur. Sie sieht Herricht und Preil. Den Sketch vom Mückentötolin. Aus der großen Entfernung, 6000 Kilometer, zwanzig Jahre, verschmelzen die beiden Deutschlands. Sie werden eine einzige ferne Heimat, die sich um Sonnies Vergangenheit geschlossen hat wie eine Muschel.
Die Mutter.
Die Mutter vorm Fernseher.
Die Mutter und die Großmutter auf dem Sofa vorm Fernseher.
Die Mutter, die Großmutter und Klein-Sonnie vorm Fernseher.
Die Mutter mit Handarbeiten in der Hand.
Die Großmutter mit Handarbeiten in der Hand.
Klein-Sonnie mit der Sei-glücklich-Tasse in der Hand.
Mit einem Menschen zusammenzuleben, der Rudi Carrell nicht kennt, der nicht vorm Fernseher gesessen hat, auf dem Sofa, zwischen Mutter und Großmutter, erscheint Sonnie seelisch grausam. Was hatte Rhett geprägt, die Johnny-Carson-Show? Abbott & Costello? Hatte er zwischen seiner Mutter und seiner Großmutterauf dem Sofa vorm Fernseher gesessen? Könnte sie sagen, was in einem Koffer wäre, der die Essenz seines Lebens enthielte?
Die Tasse wäre jedenfalls in meinem, denkt sie und freut sich, dass sie wenigstens die Tasse behalten hat, als sie den Hausstand ihrer Mutter auflöste. Diese hässliche Sammeltasse aus Meißener
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