Der Kojote wartet
Windstille gewichen, wie sie häufig unmittelbar vor den ersten Schneeflocken auftrat.
Hatte er etwas gehört? Chee wußte es nicht sicher. Wahrscheinlich war er nur nervös - wegen der Nähe von Hexen. Hexen. Dabei mußte er an Joe Leaphorn denken, der Hexenglauben mit Aberglauben gleichsetzte. Chee hatte gelernt, anders mit ihnen umzugehen: Er sah ihre Darstellung in der überlieferten Mythologie als Metaphern. Manche zogen es vor, vom Weg des Volkes abzuweichen; manche zogen Inzest, Mord und materiellen Reichtum der Harmonie und Ordnung des Navajo-Weges vor. Chee wußte, daß sie unabhängig von ihrer Bezeichnung existierten. Und er wußte, daß sie gefährlich waren.
Jetzt lauschte Chee und hörte fast nichts. Irgendwo außer Sicht trillerte eine Lerche im Sopran ihre Lerchentonleiter. Unter ihm in der Nähe des Arroyo, in dem sein Pickup stand, stritten sich Krähen. Er hörte nichts, was seine Nervosität hätte rechtfertigen können.
Die jetzt knapp unter dem Horizont stehende Sonne färbte die Unterseite der Sturmwolken weit im Westen leuchtendgelb und über Chees Kopf altrosa. Reflektiertes Licht übergoß die Landschaft mit einem schwachroten Schimmer, der die Sicht tückisch verschlechterte. Chee wußte, daß er keine Zeit verlieren durfte.
Er trat an dem alten Sattel vorbei in den Felsspalt - und blieb erneut stehen.
Als erstes sah er den Hut. Flugsand hatte ihn größtenteils zugedeckt, aber ein Stück Krempe und fast die ganze Krone waren noch sichtbar. Offenbar ein uralter Hut aus einst schwarzem Filz, der jetzt zu fleckigem Grau ausgebleicht war. Dahinter sah er ein Hosenbein und einen Stiefel, ebenfalls zum größten Teil unter Flugsand begraben.
Chee holte tief Luft und atmete ganz langsam aus, um seine flatternden Nerven zu beruhigen. Hosteen Pinto hatte offenbar doch recht gehabt. Vor langer Zeit war hier ein Mann gestorben. Noch einen Augenblick, dann würde er den zweiten Toten suchen. Das hatte durchaus keine Eile. Wie die meisten traditionell denkenden Navajos mied Chee jeglichen Kontakt mit Toten so bewußt, wie ein orthodoxer Jude oder Mohammedaner einen Schweinebraten gemieden hätte. Sie waren tabu. Sie machten krank.
Aber es gab auch Heilungszeremonien für solche Erkrankungen, wenn sie sich nicht vermieden ließen. Chee bewegte sich weiter, um einen Blick auf die Leiche zu werfen.
Der Mann, der die Hose trug, lag größtenteils weit unter einem Felsüberhang - als habe er als Sterbender Schatten gesucht. Auch jetzt noch schützte ihn dieses Felsdach vor Wind und Wetter. Aber die alles austrocknende Hitze hatte ihn in eine zusammengeschrumpfte Mumie verwandelt, die in verblichene Kleidungsstücke gehüllt war.
Irgendwo müßte ein zweiter Toter liegen, dachte Chee. Er fand ihn in der anschließenden kleinen Höhle.
Auch dieser größere Mann war von der trockenen Hitze teilweise mumifiziert worden. Das Gesicht war mit seinem Hut bedeckt, aber unter der Krempe sah Chee einen langen, grauweiß ausgebleichten Schnauzbart. Die Lage dieses Toten war verändert worden, indem ihn jemand über den Sand gezerrt hatte. Er trug noch seinen Revolvergurt, aber das Halfter war leer. Dies schien Professor Tagerts berühmter Butch Cassidy zu sein. Tagerts Rache an seinen Widersachern.
Chee betrachtete den Toten. Ein Teil seiner Weste fehlte, und andere Kleidungsstücke waren zerrissen, als er unter den schützenden Felsen hervorgezerrt worden war. Vielleicht war das völlig verrottete Gewebe auch von selbst zerfallen. Oder vielleicht hatte jemand - Professor Tagert? - Mr. Cassidys Taschen durchsucht, um einen Identitätsnachweis zu finden.
War Tagert hier gewesen? Er mußte eine der beiden Personen gewesen sein, die Taka Ji beobachtet hatte. Chee suchte nach Fährten, die überall zu finden waren. Die Spuren zweier Menschen. Spitz zulaufende Cowboystiefel, etwa Größe zehn, und erheblich kleinere Wanderschuhe mit Profilgummisohlen.
Wo waren ihre Satteltaschen? Einer der beiden war stark genug gewesen, um seinen Sattel mitzunehmen. Folglich würde er auch die Satteltaschen mitgebracht haben. Chee sah sich nach einem möglichen Versteck dafür um.
Der kleine Felsabsatz hinter dem Toten - an sich der logischste Aufbewahrungsort - war leer. Dann fiel ihm ein tiefer Felsspalt etwa in Schulterhöhe auf. Chee warf einen vorsichtigen Blick hinein, denn ein Spalt dieser Art war ein idealer Ruheplatz für eine Schlange. Tatsächlich hatte sich darin eine ausgewachsene Rautenklapperschlange
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