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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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das vor der Fensterfront auf einem kleinen Holzpodest stand wie ein dunkles exotisches Tier mit langem Hals (Barbara Gottliebs Gatte war k. u. k. Hofastronom); nicht die Biedermeiermöbel, nicht die hübschen stoffbespannten Stühle (in Wien nannte man sie »Sessel«), wie sie im Halbrund für die Lesung aufgereiht warteten; ganz gewiss nicht das golden gerahmte Porträt Seiner Majestät neben der Bücherwand – Bilder des Kaisers hingen in manch privatem Haushalt, vor allem in Wohnungen von Israeliten, herum. Nein, den tiefsten Eindruck in diesem Raum verschaffte Alexej von Repin, was er sah, wenn er Fensterfront und Dom den Rücken zukehrte. Es passierte einem ja nicht jeden Tag, dass man ein Bild des wahrscheinlich größten Malers zu Gesicht bekam, den das soeben abgelaufene 20. Jahrhundert hervorgebracht hatte. Ein Levinsohn! Eswar mit klarem Verstand gar nicht zu fassen. Ein echter Levinsohn in einer privaten Wohnung!
    Das Gemälde – es war ein großes Format, vielleicht zwei mal drei Meter – musste in der Periode kurz nach seinem Übertritt zur katholischen Kirche entstanden sein, also in den späten Dreißiger- oder frühen Vierzigerjahren. Auf den ersten dummen Blick glaubte man, es sei in Gold- und Silbertönen auf schwarzem Untergrund gehalten; auf den zweiten Blick (und etwas klüger geworden) sah man: Bei dem schwarzen Untergrund handelte es sich in Wahrheit um verschiedene Blautöne, die immer dunkler, immer finsterer wurden, ohne je die Absolutheit des Schwarzen zu erreichen. Und das Gold und das Silber erwiesen sich der genaueren Betrachtung als schmutzig helles Gelb und blendend reines Weiß. (Jizchak Levinsohn, das wusste jeder Anfänger auf dem Gebiet der Kunstgeschichte, hatte Licht so blendend zu malen verstanden wie vor ihm vielleicht nur William Turner; im Vergleich mit ihm nahmen sich die Herren Impressionisten – pardon, messieurs – wie Stümper aus.) Das Bild zeigte einen Höllensturz. Dieses Thema hatte er in jener Periode seines Schaffens in Dutzenden von Varianten auf die Leinwand geworfen, wie ein Getriebener war er mit dem Pinsel immer wieder der alten Legende von dem strahlenden Cherub nachgejagt, der sich gegen die himmlischen Autoritäten erhob und dafür mit dem Fall ins Bodenlose bestraft wurde. Auf diesem Ölgemälde hier fielen die Engel als pures Leuchten vom oberen Bildrand nach unten, im Sturz verdämmerten und verloschen sie allmählich in das tiefere Blau hinein; im unteren Drittel des Bildes aber, schreckverzerrt der Bodenlosigkeit zugewandt, hatte Levinsohn mit ein paar meisterhaft-kräftigen, zugleich dünnen weißen Strichen das Gesicht Luzifers festgehalten. Und nun das Verblüffende, auch Schockierende: das Antlitz des fallendenEngels leuchtete überirdisch herrlich. Edel, durchgeistigt und klar waren seine Züge, nur der Schrecken, wie gesagt, verzerrte sie ein wenig: Der Böse, wie Levinsohn ihn sah, war schön wie der Messias.
    »Gefällt es Ihnen, unser Bild?«, fragte sie. Alexej hatte gar nicht bemerkt, wie sie sich neben ihn gestellt hatte, und seltsamerweise zuckte er nicht einmal zusammen, als Barbara Gottlieb ihn nun am Ärmel berührte.
    »Es ist gewaltig«, antwortete er. Sie standen nebeneinander und schwiegen. Dann war auch dieser Augenblick vorüber und schlich auf Zehenspitzen davon.
    Ein paar Minuten lang musste Alexej sich nun gefallen lassen, dass sein herzensguter Freund Thomas ihn charmant triezte (»sekkierte«), ehe Barbara Gottlieb ihn von dieser Qual erlöste, indem sie mit dem Löffelchen gegen ein Sektglas klingelte und die Gäste aufforderte, Platz zu nehmen; anschließend stellte sie die Lyrikerin vor, die nun gleich aus ihren Gedichten vortragen werde. Es handelte sich um ein großes flachbrüstiges Mädchen mit schiefen Zähnen und kurzem braunem Haar, eine Slowenin aus der Untersteiermark. Sie hörte auf den Namen Ana Dalmatin und mochte ein paar Jahre älter als Alexej und Thomas sein, das war schwer zu schätzen; jedenfalls hatte die Dichterin schon in verschiedenen Anthologien veröffentlicht, aber noch keinen Verlag gefunden, der ihre Verse zwischen zwei Pappdeckeln gebündelt oder als Elektrobuch auf den Markt geworfen hätte. Das sollte sich nach diesem Vormittag zum Glück ändern. Ana Dalmatin – sie trug trotz der Sommerhitze hohe Stiefel und war sehr eigenwillig farbenfroh gekleidet – stellte sich ohne Pose vor die Gäste, nahm ihre Blätter zur Hand und fing an zu lesen.
    Las sie denn gut? Sie las sogar

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