Der Kommandant und das Mädchen
Zuunterst liegt ein Umschlag mit vertraulichem Inhalt.
Normalerweise würde ich ihn zur Seite legen, wie es mir an meinem ersten Arbeitstag erklärt wurde, doch heute kümmert mich das nicht. Bestimmt sind es Telegramme aus Berlin, und ich will wissen, was darin über das Attentat geschrieben steht. Ich öffne den Umschlag und lese. Ich erfahre, dass das Café Warszawa von Deutschen besucht wurde, die dort Weihnachten feiern wollten. Sieben Deutsche sind tot, es gibt etliche Verletzte. Die Telegramme aus Berlin enthalten den Befehl, unverzüglich Vergeltungsmaßnahmen in die Wege zu leiten – sowohl unter den Juden im Ghetto als auch unter den nicht-jüdischen Polen. Das Blut gefriert mir in den Adern, da ich in diesem Moment an meine Eltern denke.
Ich lese weiter, bis ich beim letzten Telegramm angelangt bin, das nur aus einem knappen Satz besteht:
Alek Landsberg um 2:00 Uhr erschossen, als er bei der Festnahme in seiner Wohnung Widerstand leistete.
Das Blatt rutscht mir aus der Hand. Dieses Telegramm wurde heute Morgen nach Berlin geschickt. Unterzeichnet hat es … der Kommandant.
21. KAPITEL
Z um Mittagessen gibt es
Chulent
, eine dicke Suppe aus Rindfleisch, Kartoffeln und Bohnen, die ich als Kind jeden Sabbat mittags und abends von meiner Mutter serviert bekam. Natürlich wagen wir nicht, dieses Gericht bei seinem eigentlichen Namen zu nennen. Ich habe gehört, wie Krysia Łukasz erklärte, dass es einen Fleischeintopf zu essen gibt. Innerlich musste ich dabei zusammenzucken. Ausgerechnet der Sohn eines Rabbi wächst auf, ohne etwas über dieses jüdische Sabbat-Gericht zu erfahren. Seit über einem Jahr habe ich es selbst nicht mehr zu essen bekommen, doch jetzt, mitten im tiefsten Winter, ist es die eine Mahlzeit, nach der ich mich sehne.
Es ist Mitte Februar, fast zwei Monate sind seit dem Bombenattentat auf das Warszawa Café vergangen. “Eine große Heldentat”, habe ich einen Mann auf der Straße leise darüber sagen hören, eine Meinung, der ich auf das Schärfste widerspreche. Ein paar Nazis wurden getötet. Na und? Das war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und welcher Preis wurde für diese “Heldentat” bezahlt? Alek, das Rückgrat der Bewegung, ist tot. Ihn hat man in der Nacht nach dem Anschlag in seiner Wohnung erschossen. Mir kommen die Tränen, wenn ich an unsere letzte Begegnung denke, bei der er sich so fest entschlossen zeigte und keine Angst vor den vor ihm liegenden Gefahren hatte. Die Zeitungen haben ihn als Kriminellen dargestellt, der auf der Flucht erschossen wurde. Ich kenne die Wahrheit, die mit dieser Lüge nichts gemein hat.
Was Jakub angeht, haben Krysias Nachforschungen nur wenig mehr ergeben als das, was wir bereits wussten: Er wurde bei dem Anschlag verletzt und aus der Stadt gebracht. Einer von Krysias Kontakten vermutet, dass er sich in den Bergen auskuriert. Offenbar wurde er nicht von einer Kugel getroffen, sondern von Splittern der Explosion. Über die Schwere seiner Verletzungen weiß man noch immer nichts Genaues.
Nach dem Tod von Alek und der Festnahme einer Reihe weiterer Widerstandskämpfer – darunter auch Marek – ist die Bewegung mehr oder weniger führungslos, sodass es nahezu unmöglich ist, an Informationen zu kommen. Ich weiß nicht mal, was seit unserer Begegnung in der ulica Floriańska aus Marta geworden ist. Sicherlich würde sie sich melden oder mir Neuigkeiten über Jakubs Zustand zukommen lassen, wenn sie das könnte. Ich frage mich, ob sie ihn inzwischen wohl gesehen hat. Jakub. Sein Gesicht taucht vor meinem geistigen Auge auf. Ich denke inzwischen so gut wie immer an ihn. Manchmal kommen die schönen Erinnerungen hoch, Erinnerungen an unsere Wohnung in der ulica Grodzka, an unsere letzte gemeinsame Nacht, die wir dort verbrachten. Aber ich sehe auch andere Bilder: wie er in irgendeiner Hütte liegt, blutverschmiert, mit Schmerzen und ganz allein. So sehr ich mich auch anstrenge, ich kann diese Bilder nicht aus meinem Kopf verbannen.
Sei stark
, bete ich,
und komm zu mir zurück.
Alles – das Ghetto, meine Anstellung bei den Deutschen und sogar die Affäre mit dem Kommandanten – alles habe ich ertragen können, weil ich wusste, dass Jakub irgendwo da draußen ist und wir wieder zusammenkommen werden. Ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll, wenn er nicht überlebt.
Der Anschlag hat noch andere Konsequenzen nach sich gezogen. Der über Kraków verhängte Ausnahmezustand bleibt weiterhin bestehen. Die Gestapo wacht an jeder
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