Der Kommandant und das Mädchen
Ecke, und immer wieder werden unbescholtene Bürger angehalten und verhört. Außerdem herrscht zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang eine strikte Ausgangssperre. Es sind aber nicht die Polen, denen meine größte Sorge gilt. Unter dem Zorn der Nazis mussten zweifellos die Juden im Ghetto am stärksten leiden. Ich muss an meine Eltern denken, während ich das
Chulent
rühre. Fürchterliche Geschichten sind mir zu Ohren gekommen, die man sich auf der Straße ebenso erzählt wie hinter vorgehaltener Hand in den Fluren der Burg. So sollen Juden willkürlich zu Gruppen zusammengetrieben und an eine Mauer gestellt worden sein, um sie zu erschießen.
Von Malgorzata hörte ich dieses Gerücht ebenfalls. Ihr war nichts von ihrer sonst so typischen Arroganz und Gehässigkeit anzumerken, und zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht auch jemanden im Ghetto kennt, dessen Existenz sie so wie ich verschweigt. Ich hätte sie zu gern gefragt, woher sie diese Dinge weiß. War es eines von diesen Gerüchten unter Sekretärinnen, die sich im Hauptquartier herumsprechen und dabei immer größere Dimensionen annehmen? Oder hat sie ein offizielles Telegramm zu sehen bekommen, das den Vorfall im Detail wiedergibt? Ersteres trifft meiner Meinung nach eher zu, denn so gewissenhaft die Deutschen auch sind, ihre Grausamkeiten halten sie nur selten schriftlich fest. Es kommt mir so vor, als sei ihnen längst klar, dass sie eines Tages für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.
Ich hatte Krysia wegen des Gerüchts fragen wollen, ließ es letztendlich aber sein. Die jüngsten Ereignisse haben ihr schon genug zugesetzt, da will ich sie nicht mit noch mehr Sorgen behelligen. Außerdem kann ich ihre Reaktion ohnehin vorhersagen: Sie würde mir erklären, die Berichte seien maßlos übertrieben, und selbst wenn sie der Wahrheit entsprächen, würden bei so vielen Menschen im Ghetto ganz sicher nicht meine Eltern zu denjenigen gehören, die man erschossen hat. Solche Worte können mir nicht mehr viel Trost spenden.
Ist den Mitgliedern des Widerstands denn nicht der Gedanke gekommen, dass die Nazis einen solchen Anschlag nicht tatenlos hinnehmen werden? Wieder komme ich zu dem Schluss, dass es ihnen egal gewesen sein muss.
Ich schiebe den Topf von der Kochstelle, dann fülle ich den Inhalt in eine Terrine um. Zwar trauere ich um Alek und bin voller Sorge um meinen Ehemann, doch vor allem verspüre ich ungeheuren Zorn, wenn ich darüber nachdenke, wie dumm und kurzsichtig diese “Heldentat” gewesen ist.
Trotz allem sind wir gezwungen, wie gewohnt weiterzumachen. Nur weil ich das Gefühl habe, meine eigene Welt sei stehen geblieben, geht das Leben um mich herum dennoch weiter. Jeden Morgen stehe ich auf, fahre in die Stadt und begebe mich in mein Büro, als sei alles in bester Ordnung. Manchmal meint Malgorzata oder eine andere Sekretärin zwar, ich sei schweigsamer als früher. Aber davon abgesehen gelingt es mir recht gut, den Schein zu wahren.
Als ich die schwere Terrine hochhebe, verlassen mich für einen Moment meine Kräfte. Mir wird heiß, dann wieder eiskalt. Schweiß tritt mir auf die Stirn, mir wird übel. Die Terrine mit
Chulent
rutscht mir aus den Händen und fällt auf den Fußboden, wo das Porzellan in tausend Stücke zerbricht. Die dickflüssige Suppe verteilt sich auf dem Boden.
“O nein!” Entsetzt presse ich die Hände auf meinen Mund. Die Terrine war eines von Krysias Lieblingsstücken, ein Hochzeitsgeschenk, das all die Jahre überstanden hat.
Krysia, die mit Łukasz am Tisch sitzt und auf das Essen wartet, steht sofort auf und kommt zu mir, um sich um mich zu kümmern.
“Es tut mir so leid”, sage ich und beginne zu weinen.
“Ist schon gut”, erwidert sie sanft.
“Nein, das ist es nicht”, schluchze ich kopfschüttelnd. Die zerbrochene Terrine scheint der Tropfen zu sein, der das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hat. Plötzlich muss ich an den Morgen denken, an dem ich von Aleks Tod erfuhr. Ich hatte mich zwingen müssen, das Telegramm zu den anderen zurückzulegen und weiterzuarbeiten, ohne auf diese Nachricht zu reagieren. Nicht einmal am Abend hatte ich geweint, als ich Krysia davon berichtete. Jetzt auf einmal stürzen Trauer, Sorge und Hilflosigkeit der letzten Wochen auf mich ein. Ich weine um Alek, der die Bewegung so tapfer angeführt und meine Verbindung zu Jakub wiederhergestellt hat. Ich weine um den verletzten Ehemann, bei dem ich nicht sein kann, um meine
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