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Der Kommandant und das Mädchen

Der Kommandant und das Mädchen

Titel: Der Kommandant und das Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pam Jenoff
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liefen zurück zum Waisenhaus, um uns unterzustellen, und kamen nicht wieder auf das Thema zu sprechen.
    Einige Wochen später war ich in unserer Wohnung damit beschäftigt, die Bettlaken zu waschen, als ich plötzlich an das Gespräch mit Marta denken musste. Es war ein Donnerstagnachmittag, und ich genoss einen der seltenen Momente, ganz allein für mich zu sein. Meine Schicht im Waisenhaus hatte ich mit einer jungen Kollegin getauscht, stattdessen würde ich am kommenden Sonntag arbeiten. Mir kam Martas Frage in den Sinn, ob ich einen Freund hätte, ob ich mit jemandem zusammengewesen war. Vielleicht wusste sie ja von Jakub und versuchte nur, mir ein Geständnis zu entlocken.
    Plötzlich wurde die Stille jäh von einem lauten Geschrei auf der Straße durchbrochen. Ich zuckte so heftig zusammen, dass das dreckige Waschwasser überall hinspritzte. Ich wischte es von meinem Kleid und trat ans Fenster. Im selben Moment hörte ich eine helle, verzweifelte Frauenstimme und gleich darauf eine tiefe, wütende Männerstimme. Schnell trat ich vom Fenster weg und lehnte mich gegen die Wand, sodass ich hinausspähen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Von dieser Position aus war es mir gerade eben möglich, zwei Personen auf der Straße auszumachen. Mit Schrecken stellte ich fest, dass der Mann, der vor dem Wohnhaus gegenüber stand, eine deutsche Uniform trug. Aus Angst vor Krankheiten mieden die Deutschen für gewöhnlich das Ghetto und überließen es lieber dem Judenrat, die internen Angelegenheiten zu regeln. Der Mann stritt mit einer zierlichen jungen Frau, deren auffallend dicker Bauch keinen Zweifel an ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft ließ. “
Proszç!”
, hörte ich sie flehen.
Bitte!
    Der Streit wurde lauter. Obwohl ich kaum ein Wort deutlich verstehen konnte, vermutete ich, dass die Frau den Soldaten davon abhalten wollte, das Haus zu betreten. Offenbar hatte sie etwas Wichtiges vor ihm zu verbergen.
    Schließlich versetzte er ihr einen heftigen Stoß, worauf sie gegen den Türrahmen stieß, zu Boden sank und reglos liegen blieb. Der Deutsche stieg über sie hinweg und betrat das Haus. Polternder Lärm war von drinnen zu vernehmen, es hörte sich an, als würden Möbelstücke umgeworfen. Augenblicke später kehrte der deutsche Soldat auf die Straße zurück und zerrte, einen schmächtigen Mann am Kragen hinter sich her.
    Die am Boden liegende Frau erwachte aus ihrer Reglosigkeit und schlang die Arme um die Beine des Deutschen. “Nein, nehmen Sie ihn nicht mit!”, bettelte sie ihn an. Ungeduldig versuchte er, sich aus ihrem Griff zu befreien, doch sie wollte ihn nicht loslassen. Während die Frau immer verzweifelter schrie, zuckten die Blicke des schmächtigen Mannes hin und her – wie bei einem panischen Tier, das nach einem Fluchtweg sucht. Er sah nach oben, und ich wich sofort zurück, da ich fürchtete, er könnte mich entdecken.
    Die Stimmen wurden lauter, dann fiel ein Schuss. Ich erstarrte. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich dieses Geräusch hörte.
    Jetzt begann der schmächtige Mann zu schreien, und es klang fast so schrill wie zuvor bei der Frau. Ich konnte einfach nicht anders und musste wieder hinaussehen, um zu wissen, was geschehen war. Die Frau lag reglos auf dem Boden, die Augen aufgerissen, um ihren Kopf herum war der Gehweg von Blut rot gefärbt. Einen Arm hatte sie schützend über ihren runden Bauch gelegt. Der Deutsche zerrte den schreienden Mann hinter sich her durch die Straße.
    Ich beugte mich vor und übergab mich, direkt hier vor dem Fenster, da mein Magen den Hass und die Verzweiflung nicht länger aushielt. Als der Würgereiz endlich nachließ, wischte ich mir den Mund ab und schaute abermals hinaus.
    Die Haustür stand noch immer halb offen, und plötzlich konnte ich eine kleine Gestalt dahinter ausmachen. Es war ein Kind, kaum älter als drei Jahre, mit den gleichen blonden Haaren wie die tote Frau. Das Kind stand reglos in der Tür und starrte auf den leblosen Körper.
    Dann wurde es von hinten gepackt und zurück ins Haus gezogen, bevor die Tür mit einem Knall zufiel. Die Frau lag wie weggeworfener Abfall auf dem Gehweg.
    Zitternd sank ich auf den Boden, noch immer den intensiven Geschmack von Erbrochenem im Mund. Mir wurde bewusst, wie leicht es bis zum heutigen Tag gewesen war, die Augen zu verschließen und so zu tun, als sei das Ghetto ein Stadtviertel wie jedes andere und als seien Gewalt und Tod Dinge, die sich weit weg von hier abspielten. Zwar

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