Der Kommandant und das Mädchen
kannten wir die Gerüchte von brutalen Hinrichtungen in den Wäldern und sogar auf offener Straße, doch wir hatten uns weisgemacht, diese Berichte seien übertrieben. Aber jetzt waren es nicht länger Gerüchte aus Tarnów oder Kielce. Jetzt hatte das Morden unsere Haustür erreicht.
Den Rest des Tages verbrachte ich damit, mich wieder in den Griff zu bekommen und die schrecklichen Bilder zu verdrängen. Meine Eltern hatten schon genug Sorgen, ich wollte sie nicht in Aufregung versetzen. Doch andere in der Nachbarschaft hatten das Geschehen ebenfalls beobachtet oder zumindest mitangehört, sodass sich die Nachricht in Windeseile herumsprach. Als meine Eltern am Abend heimkehrten, gab es für sie kein anderes Thema als die Erschießung auf offener Straße. Ich hörte sie schildern, was sie von Dritten über den Vorfall erfahren hatten. Irgendwann hielt ich es nicht länger aus. “Ich habe es mitangesehen”, sagte ich und brach dann in Tränen aus. “Ich habe alles gesehen.” Erstaunt sahen mich meine Eltern an, sprachen jedoch kein Wort. Schließlich stand mein Vater auf, hockte sich neben mich und nahm meine Hand. Ich zitterte, als ich zu erzählen begann, was ich von unserem Fenster aus beobachtet hatte. “Und die Frau erwartete ein Kind”, fügte ich hinzu. Mein Vater wurde bleich – die Schwangerschaft war das eine Detail, das es nicht bis in die Gerüchteküche des Viertels geschafft hatte. “Was hat sie getan, um so sterben zu müssen?”, fragte ich schniefend. “Ist es nur, weil sie Jüdin war?”
“Ihr Ehemann – der Mann, den man wegbrachte – war Anton Izakowicz, ein Rabbi aus Lublin”, antwortete mein Vater. “Er stammt aus einer angesehenen Rabbinerfamilie, die man über Jahrhunderte hinweg zurückverfolgen kann. Pan Halkowski erzählte mir, der Rabbi sei vor ein paar Tagen mit Frau und Kind hergekommen. Ich wusste jedoch nicht, dass sie so nah bei uns wohnten. Die Nazis haben wohl geahnt, dass seine Anwesenheit hier im Ghetto unserer Moral deutlichen Auftrieb gegeben hätte. Vermutlich wurde er deshalb festgenommen.” Er schüttelte den Kopf. “Was für ein Verlust”, fügte er noch hinzu, als sei der Mann bereits tot.
“Bestimmt werden sie einen so angesehenen und bekannten Mann nicht umbringen.” Noch während ich das sagte, wurde mir bewusst, dass ich selbst nicht daran glaubte.
“Sie haben seine Frau getötet.” Meine Mutter sprach diese Worte in einem schroffen Tonfall, den ich bei ihr noch nie gehört hatte. Ja, seine Frau war getötet worden. Seine
schwangere
Frau, ergänzte ich im Geiste. Diese Worte hallten in meinem Kopf nach, als ich in der Nacht wach lag und immer wieder den kleinen blonden Jungen vor mir sah.
Am darauffolgenden Freitag holte mich Marta nicht vom Waisenhaus ab. “Sie ist erkältet”, hatte mich ihre Mutter ein paar Stunden zuvor wissen lassen. Als wir am Nachmittag die Kinder badeten und fütterten, überlegte ich, ob ich ohne Marta zum Schabbesessen gehen sollte. Der Gedanke, allein bei der Versammlung aufzutauchen, machte mir Angst, obwohl ich inzwischen bereits seit Monaten hinging. Ich betrachtete mich noch immer mehr als Martas Gast denn als jemand, der dort dauerhaft hingehörte.
Um fünf Uhr zog ich meinen Mantel an und verließ das Waisenhaus. Ich drehte den Kopf nach rechts und konnte das schwache Licht hinter den Vorhängen der Hausnummer 13 sehen. Mein Herz schmerzte bei dem Gedanken, nicht dorthin zu gehen, sondern in unsere kalte, stille Wohnung zurückzukehren. Mit einem Mal fasste ich einen Entschluss. Ich wechselte die Straßenseite und betrat das Haus, ging die Treppe hinauf und klopfte zaghaft an die Tür, nachdem ich tief durchgeatmet hatte. Als keine Reaktion kam, trat ich einfach ein.
“Dobry wieczór
, Emma”, rief Helga aus der Küche.
“Dobry wieczór”
, erwiderte ich. “Brauchst du Hilfe?”
“Nein”, gab sie kopfschüttelnd zurück. “Aber es wäre schön, wenn du nachher noch bleiben und mir beim Abwasch helfen könntest. Katya hat die Grippe.”
“Ja, natürlich helfe ich dir. Marta ist übrigens auch krank”, fügte ich hinzu und sah, dass sich bereits gut ein Dutzend Leute eingefunden hatte, deren Gesichter mir nach wenigen Wochen bestens vertraut waren.
“Emma, komm und setz dich zu uns!”, rief mir Piotrek zu, und schon bald lauschte ich einer Geschichte über einen einbeinigen Schuhverkäufer, an deren Wahrheitsgehalt ich gewisse Zweifel hegte. Aber das störte mich nicht, denn ich war vor allem
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