Der Kommandant und das Mädchen
die zweite Etage ging, kurz darauf war fließendes Wasser zu hören.
Erschöpft sah ich mich im Zimmer um und entdeckte auf dem Kaminsims mehrere gerahmte Fotografien. Ich stand auf und stellte mich vor den Kamin, um sie besser betrachten zu können. Die Bilder zeigten Jakub als Kind, Jakub und mich an unserem Hochzeitstag, Jakub im Porträt. Es war so eigenartig, ohne ihn in diesem Haus zu sein.
Nach wenigen Minuten kehrte Krysia zurück. “Du musst ein Bad nehmen”, erklärte sie und stellte einen Becher mit Tee vor mich auf den Kaminsims. “Es tut mir leid, dass wir so vorgehen mussten, aber es ging einfach nicht anders.”
Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen. “Meine Eltern …”
“Ich weiß.” Sie stellte sich zu mir, einmal mehr umgab mich der Geruch von Zimt und Äpfeln. “Es war nicht möglich, euch alle aus dem Ghetto zu holen. Aber deine Eltern werden sich freuen zu erfahren, dass du in Sicherheit bist. Und wir werden tun, was wir nur können, um auch ihnen zu helfen.”
Unwillkürlich begann ich zu schluchzen, da mich die monatelange Verzweiflung nun doch einholte. “Tut mir leid”, flüsterte ich verschämt. Krysia erwiderte nichts, sondern legte nur den Arm um meine Schultern und brachte mich nach oben ins Badezimmer, wo neben der dampfenden Wanne frisches Nachtzeug bereitlag. Nachdem Krysia gegangen war, zog ich mich aus und nahm mein erstes richtiges Bad seit Monaten. Ich schrubbte mich von Kopf bis Fuß, wusch mir zweimal die Haare und blieb so lange in der Wanne, bis das mittlerweile schmutzige Wasser kalt wurde.
Als ich entspannt und fast zu erschöpft, um mich noch länger auf den Beinen zu halten, das Bad verließ, brachte mich Krysia in mein Schlafzimmer. Verwundert betrachtete ich die Vase mit frischen Blumen auf dem Nachttisch. Existierten solche Dinge tatsächlich noch in dieser Welt? “Leg dich jetzt schlafen”, sagte Krysia und schlug die Bettdecke zur Seite, unter der ein blütenweißes Laken zum Vorschein kam. “Ich verspreche dir, morgen früh werde ich dir alles erklären.”
Nach Monaten im Ghetto erschienen mir die weiche Matratze und die sauberen Bezüge wie ein Traum. Trotz allem, was ich in dieser Nacht erlebt hatte, fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Als ich am Morgen erwachte, war ich zunächst völlig verwirrt. Beim Anblick meiner komfortablen Umgebung fragte ich mich für Sekunden, ob ich zurück in dem Zimmer war, in dem ich mit Jakub das Bett geteilt hatte. Im nächsten Moment jedoch kehrte die Erinnerung zurück. Ich war in Krysias Haus. Durch das Fenster konnte ich den Wald sehen, die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und ich wunderte mich, wie lange ich wohl geschlafen hatte. Ich ging nach unten in die Küche, wo Krysia am Herd stand. “Es tut mir leid, dass ich jetzt erst aufgestanden bin”, entschuldigte ich mich bei ihr.
“Du hast den Schlaf gebraucht, und jetzt fehlt nur noch eine kräftigende Mahlzeit.” Sie deutete auf einen Teller mit Eierkuchen und zwei blank polierten Äpfeln. “Setz dich doch.” Ich nahm Platz und hoffte, dass sie nicht hörte, wie laut mein Magen knurrte. Sie stellte ein Glas Tee vor mich hin. “Ich habe erfahren, dass deinen Eltern dein Verschwinden bereits erklärt wurde. Außerdem hat eine andere junge Frau deinen Platz im Waisenhaus übernommen, sodass niemand dein Fehlen bemerken wird.” Ich war erleichtert und zugleich sehr neugierig, weil ich mich wunderte, woher Krysia diese Dinge wusste.
Ich zögerte, da mir eine Frage auf der Zunge lag, die Jakub betraf. Stattdessen fragte ich: “Was ist mit den Baus?”
Kopfschüttelnd brachte sie mir noch einen Teller mit Brot und ein wenig Käse und setzte sich dann zu mir. “Von ihnen hörte ich das letzte Mal vor zwei Monaten, seitdem nichts mehr. Es geht ihnen gut, aber sie leben nicht so, wie Fania es gewohnt ist.” Mir entging nicht der ironische Unterton in ihrer Stimme. Ich nickte verstehend. Mit polnischem Geld konnte man in der Schweiz nicht weit kommen, selbst wenn man recht viel davon besaß. Durch die Kriegswirren wurde den Baus zudem der Zugriff auf ihr Vermögen erschwert. “Sie wollten persönlich mit dir Kontakt aufnehmen, aber sie hatten Angst, darauf aufmerksam zu machen, dass ihr miteinander verwandt seid.”
“Und ihr Zuhause?” Mein Magen drehte sich um, als ich an die prachtvolle Villa dachte.
“Es wurde im Sommer von einem hochrangigen Nazioffizier beschlagnahmt.” Sie legte ihre Hand auf meine. “Du hättest nichts tun können,
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