Der Kommandant und das Mädchen
bis er wieder einschlief.
Leise verließen wir das Zimmer. “Dieser Junge”, flüsterte ich. “Er ist …”
“Der Sohn von Rabbi Izakowicz, dem bekannten Rabbi aus Lublin. Seine Mutter wurde umgebracht …”
“Ich weiß! Ich habe es von unserer Wohnung aus mitangesehen.”
“Oh, du Arme”, sagte Krysia und tätschelte mitfühlend meine Schulter.
“Du sagtest, er hat keine Eltern mehr. Was ist mit seinem Vater?”
“Das wissen wir nicht. Entweder wurde er in den Wäldern bei Czernichów erschossen oder in ein Lager gebracht. So oder so sieht es nicht gut für ihn aus.”
Ich kniff die Augen zusammen und sah die Szene vor mir, die sich vor unserer Haustür abgespielt hatte. Bestimmt werden sie den Rabbi nicht umbringen, hatte ich an dem Abend zu meinen Eltern gesagt. “Sie war schwanger, als sie sie töteten”, murmelte ich. Meine Augen begannen zu brennen, während ich hinzufügte: “Die Mutter des Jungen, meine ich.”
Krysia nickte. “Davon habe ich gehört. Das macht unsere Arbeit umso wichtiger. Der Junge ist der Letzte einer wichtigen Rabbiner-Dynastie. Er muss am Leben bleiben.”
In der Nacht wechselten wir uns mit dem Schlafen ab, damit immer eine von uns zur Stelle war, falls der Junge aufwachte und die fremde Umgebung ihm Angst machte. Doch zu unserer Erleichterung schlief er bis zum Morgen durch. Als ich ihn aus dem Kinderbett hob, trug er noch seine Straßenkleidung und war so nassgeschwitzt, dass die blonden Locken an seiner Stirn klebten. Ich setzte ihn auf meinen Schoß, worauf er kurz blinzelte, aber keinen Laut von sich gab. Stattdessen legte er die Arme um meinen Hals und ließ den Kopf auf meine Schulter sinken, so als hätte er das schon immer so gemacht. Gemeinsam begaben wir uns nach unten in die Küche, wo Krysia das Frühstück vorbereitete. Bei unserem Anblick leuchteten ihre Augen auf und sie begann zu lächeln.
Eine Woche später würde Łukasz mich in die Stadt begleiten, damit wir unseren ersten Auftritt als Christen absolvierten. Er würde beim Anblick der vielen Menschen große Augen machen, und ich würde nicht widerstehen können und etwas von unserem Essensgeld abzweigen, um ihm eine Leckerei zu kaufen. Und so kam es, dass Łukasz – der Sohn des großen Rabbis aus Lublin – und Emma – Tochter eines armen Bäckers aus Kazimierz – im Wochenendhaus der eleganten Krysia Smok lebten, das ihnen so prachtvoll wie ein Palast erschien.
6. KAPITEL
“A m Samstag gebe ich eine Abendgesellschaft”, gibt Krysia so beiläufig bekannt, als würde sie über das Wetter reden. Das feuchte weiße Betttuch entgleitet meinen Händen und fällt auf die Erde.
Wir arbeiten im Garten. Krysia rupft das Unkraut rund um die grünen Pflanzen aus, die eben zu blühen beginnen, während ich die Bettlaken aufhänge, die wir eine Stunde zuvor in einem großen Bottich gewaschen haben. Ein paar Meter entfernt wühlt Łukasz mit einem Stöckchen die Erde auf. Seit über einem Monat wohnen der Junge und ich nun schon bei Krysia. Ich merke ihr an, dass es manchmal zu viel für sie wird. Seit meiner Ankunft versuche ich, ihr so viel Hausarbeit wie möglich abzunehmen, aber das, was sie selbst erledigt, geht ihr dennoch an die Substanz. Ihre zierlichen Hände scheinen mit jedem Tag mehr Schwielen aufzuweisen, und ihre Arbeitskleidung ist von Flecken übersät. Doch trotz aller Opfer scheint es Krysia zu gefallen, dass sie uns um sich hat. Wir sind seit Marcins Tod ihre ersten echten Mitbewohner. Sie und ich, wir sind uns gegenseitig angenehme Gesellschaft. Mal unterhalten wir uns angeregt bei der Hausarbeit, dann wieder versinken wir in tiefes Schweigen. Immerhin gibt es für jeden von uns einiges, über das wir nachdenken können. Ich weiß, sie ist um Jakub genauso besorgt wie ich, zudem gilt ihre Sorge dem Kind und mir. Auf keinen Fall dürfen wir entdeckt werden, nicht auszudenken, was dann geschehen würde.
Die Anwesenheit des Jungen hält uns davon ab, zu tief in Wehklagen zu versinken. Łukasz ist ein hübscher Junge, ruhig und genügsam. In den Wochen, die er inzwischen bei uns ist, hat er allerdings noch kein Wort gesprochen. Auch haben wir bislang vergeblich alles versucht, um ihn zum Lachen zu bringen. Manchmal erfinde ich irgendwelche kindischen Spiele, und Krysia spielt am Abend auf dem Flügel beschwingte Melodien, während ich den Kleinen auf dem Arm halte und mich mit ihm im Takt der Musik drehe. Nichts davon hat bislang etwas bewirkt. Łukasz sieht uns geduldig dabei zu,
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