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Der Kommandant und das Mädchen

Der Kommandant und das Mädchen

Titel: Der Kommandant und das Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pam Jenoff
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ist noch nicht ganz sieben Uhr, als ich das Haus verlasse und die Straße entlanggehe. Die Menschen in Chelm sind Frühaufsteher, an praktisch jedem Wohnhaus und Bauernhof ist jemand zu sehen. Einige kümmern sich um den Garten, andere um das Vieh, wieder andere fegen die Straße vor ihrem Grundstück. Als ich vorübergehe, blicken die Leute hoch, da meine Anwesenheit in Krysias Haus nach wie vor die Neugier der Nachbarn weckt. Ich nicke und versuche, mit einem Lächeln zu grüßen, als sei es völlig normal, dass ich um diese Uhrzeit auf den Beinen bin. Am Ende der Straße bleibe ich kurz stehen und atmete tief durch. Seit ich zu Krysia gekommen bin, liebe ich die frühen Morgenstunden. Über den Feldern liegt eine dünne Nebelschicht, die sich wie ein Vogelschwarm erheben wird, wenn die Sonne höher steigt. In der Luft hängt der Geruch von nassem Gras. Während ich den Anblick genieße, merke ich, wie es mir leichter ums Herz wird. Für Sekunden kann ich meine Nervosität fast vergessen.
    An der Haltestelle für den Omnibus warte ich, ohne mit der älteren Frau neben mir zu reden, die eine Auswahl an Gartenkräutern in ihrem ramponierten Korb mit sich führt. Der Bus kommt, ich steige nach der Frau ein und gebe dem Fahrer eine der Marken, die ich von Krysia bekommen habe. Der Bus holpert über die uneben geteerte Straße und hält etwa alle fünf Minuten an, um weitere Fahrgäste einsteigen zu lassen. Die Bäume reichen so weit in die Straße hinein, dass Äste und Zweige über das Fahrzeugdach krachen. Als alle Sitzplätze besetzt sind und immer noch Menschen zusteigen, überlasse ich meinen Platz einem alten Mann, der mich zahnlos anlächelt.
    Endlich steige ich aus, und nach einem kurzen Marsch bin ich am Fuß der Wawelburg angekommen. Beim Anblick der gewaltigen Festung muss ich nach Luft schnappen. Ich habe die Burg nicht mehr gesehen, seit ich ins Ghetto zu meinen Eltern ging. Nun wirken die Kuppeln und Türme prachtvoller, als ich sie in Erinnerung hatte. Über die Jahrhunderte hinweg, in denen Kraków die Hauptstadt Polens gewesen ist, hatten die Könige hier ihren Sitz. Viele Mitglieder des Königshauses sind in der Kathedrale der Burg beigesetzt worden. Den Status der Hauptstadt hat inzwischen Warszawa inne, und die Wawelburg war nur noch ein Museum, das an vergangene Zeiten erinnerte – bis die Deutschen sie zum Sitz des Generalgouvernements erklärten. Reiß dich zusammen, ermahne ich mich, doch meine Beine zittern und drohen mir wegzuknicken, während ich den langen Weg zum Eingang der Burg zurücklege.
    “Anna Lipowski”, bringe ich heraus, als ich vor einem Wachposten stehen bleibe. Der Mann sieht mich nicht an, sondern sucht meinen Namen auf einer Liste, dann holt er einen zweiten Wachmann her, der mich durch einen großen Torbogen ins Innere der Bug führt. Wir bewegen uns durch ein schwindelerregendes Labyrinth aus Gängen und Marmortreppen. Der modrige Geruch erinnert mich an jene Zeit, als ich noch Kind war und die Burg auf einem Schulausflug besuchte. Die Gänge wirken nun steril, da man die Porträts der polnischen Könige entfernt und stattdessen eine schier endlose Reihe roter Hakenkreuzfahnen aufgehängt hat. Fast jeder, dem wir begegnen, trägt eine Uniform und grüßt mit einem knappen, kernigen “Heil Hitler”. Ich nicke, sehe mich aber außerstande, diesen Gruß zu erwidern. Mein Begleiter, der mein Schweigen womöglich als Nervosität auslegt, antwortet jedes Mal laut genug, sodass es für uns beide reicht.
    Als ich das Gefühl habe, dass wir jeden Korridor und jede Treppe in der Burg bewältigt haben und es nicht mehr weitergehen kann, bleibt der Wachmann vor einer immens großen Eichentür stehen, an der ein Schild mit Kommandant Richwalders Namen darauf montiert ist. Der Mann klopft zweimal kräftig an, dann öffnet er die Tür, ohne auf eine Aufforderung zu warten, und gibt mir ein Zeichen, damit ich eintrete. Hinter der Tür befindet sich eine Art Empfangszimmer, ein fensterloser und viel zu warmer Raum. Eine korpulente Frau mit breiter Nase und öliger Haut sitzt an einem Schreibtisch in der Mitte des Zimmers. Sie ist über ihren Tisch gebeugt, ihr Lockenkopf wippt hin und her, da sie eifrig Kästchen auf einem Blatt Papier ausfüllt. Wenn sie hier ist, was soll ich dann noch tun? Hoffnung keimt in mir auf. Vielleicht kann ich gleich wieder nach Hause gehen. Aber noch während ich das denke, weiß ich, das ist völlig unmöglich. Kommandant Richwalder ist nicht der Typ, dem

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