Der Kommandant und das Mädchen
fünf Meter groß, dem Schreibtisch gegenüber stehen ein Sofa und ein niedriges Tischchen. Die Fenster sind so hoch, dass man fast nicht hinausschauen kann. Aber wenn ich mich lang mache und auf die Zehenspitzen stelle, kann ich ein kleines Stück vom Fluss sehen.
Ich lege den Stapel Eingangspost vor mich auf den Tisch und beginne, die Umschläge zu öffnen. Mit Blick auf das, was Krysia mir gesagt hat, versuche ich so viel wie möglich von dem zu lesen, was man dem Kommandanten schreibt. Allerdings ist die Post für ihn auffallend banal und besteht in erster Linie aus Einladungen zu den verschiedensten Anlässen und sehr sachlichen, offiziellen Berichten voller militärischer Begriffe, mit denen ich nichts anfangen kann. Nachdem ich etwa ein Drittel des Stapels durchgesehen habe, stoße ich auf einen versiegelten Umschlag, auf dem mit roter Tinte das Wort
Vertraulich
geschrieben steht. Ich halte den Brief gegen das Licht, es erweist sich jedoch als unmöglich, durch das dicke Papier hindurchzusehen. Ich betrachte das Siegel genauer und überlege, ob es sich wohl wieder verschließen lässt, wenn es erst einmal geöffnet wurde. Mit dem Fingernagel versuche ich, es zu lösen.
In diesem Augenblick geht die Tür auf, und der Kommandant betritt das Vorzimmer. Den Umhang trägt er über die Schultern gelegt. Mir stockt der Atem. Dieser Mann ist noch beeindruckender, als ich ihn in Erinnerung hatte. Ein kleinerer Mann, ebenfalls in Uniform, folgt ihm. Er trägt zwei schwarze Lederaktentaschen. Sofort stehe ich auf. “Anna”, sagt der Kommandant lächelnd und stellt sich an den Schreibtisch. Er nimmt meine rechte Hand, und fast rechne ich damit, dass er mir so wie bei Krysia einen Handkuss gibt, doch dann schüttelt er sie nur. “Willkommen.” Er deutet auf den Uniformierten neben sich. “Das ist Oberst Diedrichsen, mein Adjutant.”
Diedrichsen stellt die Aktentaschen ab und sieht mich ernst an. “Was machen Sie denn damit?”, will er wissen.
Ich erstarre vor Schreck. Mir ist entfallen, dass ich den Briefumschlag mit dem halb geöffneten Siegel immer noch in der Hand halte. “M-Malgorzata sagte mir, ich solle die Post öffnen”, bringe ich heraus.
“Hat sie Ihnen nicht gesagt, dass vertrauliche Briefe nicht geöffnet werden?”, fährt er mich an. Ich zucke mit den Schultern und schüttele leicht den Kopf, dabei bete ich, dass er sie nicht fragen wird.
“Ich bin mir sicher, dass es nur ein Missverständnis war”, wirft der Kommandant ein.
“Dies” – Oberst Diedrichsen reißt mir den Umschlag aus der Hand – “ist der Grund, warum ich lieber Personal aus Berlin herholen wollte.”
“Danke, Oberst, das wäre dann alles”, geht der Kommandant über die Bemerkung hinweg.
Diedrichsen hebt den rechten Arm. “Heil Hitler”, sagt er, nimmt seine Aktentasche und macht auf dem Absatz kehrt. Nachdem er gegangen ist, wendet sich der Kommandant wieder mir zu, geht zur nächsten Tür und gibt mir mit einer Geste zu verstehen, dass ich eintreten soll. Mit zitternden Händen nehme ich meinen Notizblock und folge ihm.
Sein Büro ist mit nichts zu vergleichen, was ich je gesehen habe. Es ist unglaublich groß, größer noch als eine ganze Etage in Krysias Haus. Ich habe das Gefühl, drei Zimmer in einem zu sehen. Gleich hinter der Tür stehen ein Sofa und gut ein halbes Dutzend Sessel wie in einem Wohnzimmer um einen flachen Tisch herum. Am anderen Ende des Raums beansprucht ein Konferenztisch einigen Platz für sich, an ihm zähle ich mindestens vierzehn Stühle. Zwischen diesen Bereichen steht ein gigantisch großer Mahagonischreibtisch, auf einer Ecke ist ein einzelner Bilderrahmen aufgestellt. Diesem Schreibtisch gegenüber entdecke ich eine hoch aufragende Standuhr. Die dicken roten Samtvorhänge an der Wand hinter dem Schreibtisch sind aufgezogen, sie werden mit goldfarbenen Kordeln zurückgehalten, sodass die Fensterfront einen atemberaubenden Blick auf den Fluss gewährt.
Der Kommandant deutet auf das Sofa. “Setzen Sie sich doch bitte”, fordert er mich auf und geht selbst zum Schreibtisch. Ich nehme Platz und warte ab, während er einen Stoß Papiere durchsucht. Im nächsten Moment sieht er auf. “Ich nehme an, Malgorzata hat Ihnen Ihre grundlegenden Aufgaben erklärt, nämlich Korrespondenz und Terminplanung.” Ich nicke. “Wenn mehr nicht nötig wäre, könnte das jeder andere erledigen, sogar Malgorzata. Anna”, fügt er dann meinen Namen an und kommt auf mich zu. Während er sich
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