Der Kommandant und das Mädchen
dann wieder in die Kälte hinausbegeben müssen. Keine von uns will diesen Moment enden lassen.
“Also …”, sagt Marta schließlich.
“Also …”, wiederhole ich. Es gibt so vieles, was ich sie fragen will, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.
“Du sieht gut aus”, erklärt sie.
“Danke. Ich kann froh sein, dass ich bei Krysia untergekommen bin. Sie ist sehr nett zu mir.” Plötzlich verspüre ich Schuldgefühle, weil ich so wohlgenährt aussehe,. Ich bemerke, wie blass und müde Marta gegen mich wirkt. Mir drängt sich die Frage auf, wovon sie sich bloß ernährt.
“So schlimm ist es nicht”, meint sie trotzig. So wie Alek scheint sie meine Gedanken lesen zu können. Mir wird klar, dass ich meine Gefühle nicht so offen zur Schau tragen darf. Wenn ich so durchschaubar bin, kann mir das auf der Arbeit noch zum Verhängnis werden. “Wenigstens sind wir in Freiheit”, fügt sie hinzu.
Als sie aufsteht, erhebe ich mich ebenfalls von meinem Platz. “Wie geht es deiner Mutter?”, frage ich, nachdem wir das Café hinter uns gelassen haben. Vielleicht hat Marta ja über die Widerstandsbewegung noch Kontakte ins Ghetto. Sie sieht zu Boden und schüttelt den Kopf.
“O nein! Was ist passiert?”
“Typhus. Vor zwei Wochen.” Sie presst die Lippen zusammen. Mit einem Mal wirkt ihr Gesicht viel härter und kantiger als noch vor wenigen Sekunden.
“O nein.” Tränen steigen mir in die Augen, und ich muss dem Wunsch widerstehen, Marta in die Arme zu nehmen. Aber das würde nur unnötige Aufmerksamkeit auf uns lenken. “Aber wie …?”
“Im Ghetto wird es immer schlimmer.” Marta hält inne, als sich auf meinem Gesicht die Angst um meine Eltern abzeichnet. Dann zuckt sie mit den Schultern, weil es nutzlos ist, die Wahrheit zu verschweigen. “Sie haben wenig Essen, kein sauberes Wasser. Es sind zu viele Menschen. Viel mehr als zu der Zeit, da wir noch im Ghetto waren. Krankheiten greifen rasend schnell um sich. Die Eltern kleiner Kinder sterben wie die Fliegen, im Waisenhaus ist längst kein Platz mehr, und doch kommen immer noch welche dazu. Man versucht, die kranken von den anderen abzuschotten, aber das hilft nichts. Dort hat sie sich mit Typhus angesteckt.”
“Das tut mir wirklich sehr leid.” Vor meinem geistigen Auge sehe ich Hadassas freundliches Gesicht. Ohne sie hätte ich Marta nie kennengelernt, wäre nicht mit Alek und den anderen zusammengekommen und hätte nie die Chance gehabt, aus dem Ghetto zu fliehen. Meine Gedanken wandern wieder zu meinen Eltern. Ihnen wird es kaum besser ergehen als den anderen.
Wir gehen weiter, vorbei an der Annakirche. Meine Namensvetterin, denke ich voller Ironie. Ich weiß noch, wie ich jeden Morgen auf dem Weg zur Bibliothek diese Straße überquerte. Der alte Mann, der mit einem Eimer Wasser die Treppen sauber wischte, grüßte mich immer. Ich rieche noch jetzt die Feuchtigkeit, die morgens vom nassen Straßenpflaster aufstieg.
“Marta, darf ich dich etwas fragen?” Sie nickt. “Der Widerstand … worum geht es dabei?”
“Du meinst, warum wir das machen?” Sie schaut mich verwirrt an, und ich kann nur hoffen, sie nicht schon wieder verärgert zu haben.
“Ja.
“Weil wir irgendetwas unternehmen müssen. Wir können nicht einfach dasitzen und zusehen, wie unser Volk ausgelöscht wird.”
So etwas hat mir auch Jakub immer wieder erzählt. “Aber was ist das Ziel?”
Sie schweigt länger, als würde sie zum ersten Mal selbst darüber nachdenken. “Die verschiedenen Mitglieder des Widerstands streben unterschiedliche Ziele an.” Ich erinnere mich an die Unterhaltung, die ich im Haus Nummer 13 in der ulica Józefińska belauscht habe, als Alek, Marek und der andere Mann unterschiedlicher Meinung waren. “Einige wollen einfach nur helfen. Andere wollen zurückschlagen und die Nazis angreifen.”
“Oh.” Ein solcher Schlag wäre ein Selbstmordkommando, glaube ich. Aber ich wage nicht, die Haltung des Widerstands ein weiteres Mal zu kritisieren. Ich frage mich, in welcher Gruppe Jakub ist und was er sich von der Bewegung erhofft. Wie kann es sein, dass ich nicht die Beweggründe meines Mannes kenne, sich für die eine Sache zu engagieren, durch die wir voneinander getrennt sind? “Aber Marta, das Zurückschlagen … das ist doch sicher symbolisch gemeint, nicht wahr? Ich meine, sie glauben doch nicht wirklich daran, dass sie etwas bewirken können, oder?”
Abrupt bleibt sie stehen und sieht mich an. “Wir müssen daran glauben,
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