Der Kommandant und das Mädchen
das gar nicht überraschen.
Der Tag im Büro scheint unendlich langsam zu vergehen, während ich dem Treffen mit Alek entgegenfiebere. Dann ist es schließlich fünf Uhr, und ich mache mich auf den Weg zum Marktplatz. Die Passierscheine und die Münzen sind in meiner Tasche versteckt. Ich versuche, ganz natürlich zu gehen, denn wenn man mich erwischt, bin ich so gut wie tot.
Als ich den Marktplatz überquere und mich dem Café nähere, warten nur Alek und Marek auf mich. Marta ist nicht bei ihnen, und ich überlege, ob sie mir wohl wegen unseres Gesprächs über Jakub aus dem Weg geht. Vielleicht, überlege ich mit einem Anflug von Eifersucht, ist sie ja auch mit ihm zusammen auf irgendeiner Mission. “Die hätten wir vor Tagen nötig gehabt”, herrscht Marek mich an und reißt mir die Tasche aus der Hand, noch bevor ich mich hingesetzt habe. Ich sehe, wie Alek über meine Schulter schaut. Er ist besorgt, Mareks schroffe Reaktion könnte andere auf uns aufmerksam gemacht haben.
Ich reagiere verblüfft auf seine Grobheit. “Der Regen war ja wohl kaum meine Schuld”, entgegne ich und nehme Platz.
“Natürlich nicht. Du hast das großartig gemacht.” Aleks tiefe Stimme wirkt beruhigend. “Es ist nur so, dass es eine
akcja
gab, und wir hatten gehofft, zuvor noch einige Leute mit diesen Papieren herauszuholen.”
“Eine
akcja”
, wiederhole ich im Flüsterton. Eine Aktion. Als ich noch im Ghetto war, hörte ich Gerüchte aus anderen Städten. Die Deutschen würden das Ghetto stürmen und allen Bewohnern befehlen, ihre Wohnungen zu verlassen und sich auf den Straßen zu versammeln. Hunderte von Juden würden willkürlich ausgewählt, abgeführt und in ein Arbeitslager gebracht. Wer sich der Deportation widersetzt, den erschießt man auf der Stelle. “Ich habe davon im Büro des Kommandanten nichts mitbekommen.”
“Das ist kein Wunder”, erwidert Alek. “Solche Dinge werden über das Staatssekretariat am Außenring abgewickelt. Die wenigen Papiere, die an den Kommandanten geschickt wurden, waren höchstwahrscheinlich als vertraulich gekennzeichnet.”
“Oh.”
“Wenn du das nächste Mal in Kirchs Büro gehst …”, beginnt Marek, aber Alek unterbricht ihn, da er meine nachdenkliche Miene bemerkt.
“Was macht dir Sorgen?”, fragt er mich.
Ich zögere einen Moment lang. “Alek, bitte, meine Eltern sind noch im Ghetto.” Mir kommt der Gedanke, dass das nach der Aktion vielleicht gar nicht mehr der Fall ist. “Könnt ihr nicht etwas für sie tun?”
Alek atmet tief durch, ehe er antwortet. “Du musst verstehen …”
“Wir alle hatten Eltern”, wirft Marek mitleidlos ein. Ich erinnere mich, gehört zu haben, dass sein Vater zu Beginn des Krieges in Nowy Sacz erschossen wurde.
Alek nimmt meine Hand. “Emma”, sagt er mit sanfter Stimme.
Emma
. Mein wahrer Name erscheint mir längst so fremd. “Die Situation im Ghetto hat sich sehr verändert, seit du dort gewesen bist. Alle Lücken in den Mauern sind geschlossen worden, und alles wird schwer bewacht. Heraus kommt man nur mit einem Transitschein, einer Arbeitskarte oder einem Botenausweis. Darum war es so wichtig, dass du uns diese Blanko-Passierscheine besorgst.”
“Können meine Eltern nicht zwei von diesen Scheinen bekommen?”, will ich wissen und staune über meine Kühnheit.
“Es ist so”, erklärt Alek widerstrebend. “Nachdem du aus dem Ghetto gebracht wurdest, bat mich Jakub, von Zeit zu Zeit nach deinen Eltern zu sehen. Ich habe … nun, Emma, deine Mutter ist krank.”
“Krank?” Vor Schreck werde ich lauter. “Was ist denn mit ihr?”
“Schhht”, macht er. “Sie hat eine von diesen Krankheiten, die sich im Ghetto in Windeseile verbreiten. Ich weiß nicht, ob es Typhus ist.” Ich muss an Martas Mutter denken. “Oder eine schwere Grippe. Aber sie hat hohes Fieber, das einfach nicht sinken will. Außerdem ist sie bettlägerig. Darum können wir ihr keine Arbeitskarte ausstellen. Selbst wenn sie gehen könnte, wirkt sie nicht kräftig genug, um als Arbeiterin eingesetzt zu werden. Die Nazis würden den Trick sofort durchschauen, und dann würde sie ein noch viel schlimmeres Schicksal erwarten.”
Ich antworte nicht, da ich überlege, ob ich um Hilfe für meinen Vater bitten soll, doch ich weiß, er würde niemals ohne meine Mutter das Ghetto verlassen. “Dann sollte ich zu ihnen zurückkehren”, sage ich laut.
“Zurück?”, platzt Marek so laut heraus, dass das Paar am Tisch hinter uns zu uns herübersieht.
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