Der Kommandant und das Mädchen
und bleibt in der Tür zum Badezimmer stehen. “Pankiewicz ist ein alter Freund von mir”, erklärt sie. Ich halte inne. Fast hätte ich den mutigen Apotheker vergessen, der kein Jude ist, aber trotzdem beschlossen hat, seine Apotheke in Podgorze weiter zu betreiben und den Menschen zu helfen. “Er hat heute Morgen nach deiner Mutter gesehen. Sie ist sehr krank, und seine Medikamentenvorräte sind nur noch spärlich. Aber er wird wieder nach ihr sehen und sich nach Kräften um sie kümmern.”
“Oh, ich danke dir so sehr!” Ich schlinge meine Arme um ihren Hals. “Danke, danke!” Pankiewicz kann vielleicht nicht viel bewirken, aber wenigstens gibt es jemanden, der helfen will.
“Dank!”
, versucht Łukasz meine Worte nachzusprechen, gleichzeitig tobt er ausgelassen herum und genießt sichtlich die übermütige Stimmung. Krysia und ich lösen uns voneinander, drehen uns zu dem Jungen um und können es kaum fassen. Seit man Łukasz herbrachte, ist dies das erste Mal, dass er ein Wort gesagt hat.
Zwanzig Minuten später trockne ich den Jungen ab, der immer noch vor sich hin plappert. Es ist ein nicht enden wollender Schwall aus sinnlosen Worten und Silben, die sich über Monate hinweg in ihm angestaut haben müssen. Während ich ihm den Schlafanzug anziehe, muss ich wieder an meine Mutter denken. Meine Hoffnung beginnt zu schwinden, und ein unangenehmes Gefühl nagt hartnäckig an mir. Krysias Nachforschungen und Pankiewicz’s Fürsorge sind wohlmeinend, aber sie sind nichts angesichts der Hungers, der Krankheiten und der Verzweiflung, denen meine Eltern ausgesetzt sind – ganz zu schweigen davon, dass jederzeit eine weitere Aktion durchgeführt werden könnte. Ich verbanne diese Gedanken aus meinem Kopf. Wem das Wasser bis zum Hals steht, der greift nach jedem Strohhalm – und versucht zu ignorieren, dass dieser Strohhalm in Wahrheit viel zu dünn ist, um in der starken Strömung Halt zu bieten.
10. KAPITEL
W enige Tage nachdem mir Krysia von Pankiewicz erzählt hat, stehe ich in einer Ecke des Vorzimmers und lege Unterlagen in den Aktenschrank. Mein selbst entwickeltes Ordnungssystem funktioniert gut, aber ich muss darauf achten, mindestens einmal pro Woche die Ablage zu erledigen, sonst gerate ich ins Hintertreffen. Ich mache eine kurze Pause, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen. Es ist Mitte Juli und ziemlich warm, und das, obwohl es noch nicht einmal zehn Uhr am Morgen ist und beide Fenster geöffnet sind.
Plötzlich kommt der Kommandant aus dem Empfangsbereich in mein Zimmer geeilt, dicht gefolgt von Malgorzata. “In mein Büro bitte”, sagt er im Vorbeigehen, ohne mich anzusehen. Überrascht bleibe ich ein paar Sekunden lang stehen. Unsere tägliche Besprechung ist bereits zwei Stunden her, und bislang hat er mich noch nie so schnell wieder zu sich gebeten – ganz zu schweigen davon, dass er Malgorzata noch nie dazugeholt hat. Irgendetwas stimmt nicht. Prompt läuft mir ein eisiger Schauder über den Rücken, und plötzlich fallen mir die Passierscheine ein. Sicher hat jemand festgestellt, dass einige von ihnen fehlen. Vielleicht hat Malgorzata den Kommandanten wissen lassen, dass ich mich an dem Tag, an dem die Scheine verschwanden, eigenartig verhielt. Oder eine der Sekretärinnen hat beobachtet, wie ich mich vor Kirchs Büro aufhielt. Mir wird schwindlig, und ich muss mich am Aktenschrank festhalten.
“Anna …?” Ich zucke erschrocken zusammen und drehe mich um. Oberst Diedrichsen ist ins Vorzimmer gekommen und sieht mich von der Tür zum Büro des Kommandanten aus abwartend an.
“Ja, ich komme”, erwidere ich. Als ich nach meinem Notizblock greife, muss ich mich zwingen, meine Hände ruhig zu halten. Oberst Diedrichsen betritt hinter mir das Büro.
“Setzen Sie sich”, sagt der Kommandant. Aus dem Augenwinkel betrachte ich sein Gesicht und suche nach einem Hinweis, nach einem wütenden oder anklagenden Ausdruck, doch er sieht nicht in meine Richtung und ich kann nichts erkennen. Diedrichsen setzt sich steif in einen Sessel, ich nehme neben Malgorzata auf dem Sofa Platz. Noch während ich mich setze, versuche ich mir krampfhaft eine Antwort für den Fall zurechtzulegen, dass ich auf die Passierscheine angesprochen werde. Welchen Grund könnte ich gehabt haben, mich an jenem Morgen vor Kirchs Büro aufzuhalten? Dann räuspert sich der Kommandant und verkündet: “Wir erwarten offiziellen Besuch aus Berlin.”
Dann geht es gar nicht um die Scheine? Unendliche
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