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Der Kommandant und das Mädchen

Der Kommandant und das Mädchen

Titel: Der Kommandant und das Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pam Jenoff
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habe. Wollen Sie ihn sprechen?”
    “Nein, ich wollte nur hören, ob er wohlbehalten angekommen ist.” Diedrichsens Stimme klingt eigenartig. “Sein Wagen wird unten auf ihn warten, wenn er fertig ist.”
    “Ich werde es ihm ausrichten, sobald ich ihn sehe.” Ich lege auf und sehe zur Tür. Soll ich anklopfen und fragen, ob er etwas braucht? Ich durchquere das Vorzimmer, bleibe dann jedoch stehen. Nein, sage ich mir und mache kehrt, ich werde erst noch eine Weile warten.
    Als ich zu meinem Schreibtisch zurückgehe, bemerke ich mein Spiegelbild im Fenster und streiche mein leicht zerzaustes Haar glatt. Nachdem ich Platz genommen habe, sehe ich voller Unbehagen zur Tür. Es ist nicht die Art des Kommandanten, sich noch am Abend im Büro aufzuhalten. Wieso ist er zurückgekommen? Zehn Minuten verstreichen, dann zwanzig. Aus dem Nebenzimmer vernehme ich keinen Laut. Ist er vielleicht eingeschlafen?
    Schließlich gehe ich zur Tür und klopfe zaghaft an. Er reagiert nicht. Vorsichtig öffne ich die Tür einen Spalt und entdecke den Kommandanten, wie er vor der Karte von Kraków steht. Er hat mir den Rücken zugewandt, der Kopf ist zur rechten Schulter geneigt, während er die Karte betrachtet.
    “Herr Kommandant?” Er scheint mich nicht zu hören. “Brauchen Sie etwas?”, frage ich nach einer längeren Pause. Ein wenig wacklig auf den Beinen dreht er sich zu mir um, und mir wird klar, dass er getrunken haben muss. Meine Vermutung bestätigt sich, als ich zu ihm gehe und mir eine nach Weinbrand und Schweiß riechende Wolke entgegenschlägt. Mich überrascht das, weil mir der Kommandant bislang immer als ein durch und durch disziplinierter Mann vorgekommen ist. Noch nie habe ich gesehen, dass er von dem Weinbrand aus der Glaskaraffe auf seinem Schreibtisch getrunken hat.
    “Herr Kommandant”, wiederhole ich behutsam, aber er reagiert weiterhin nicht. Ich zeige auf eine mir fremde Aktenmappe, die er krampfhaft festhält. “Ist das für mich?”, frage ich.
    Er schüttelt ungewöhnlich langsam den Kopf und legt die Mappe in die oberste Schreibtischschublade. Ich nehme mir vor, bei nächster Gelegenheit einen Blick in diese Unterlagen zu werfen. “Haben Sie Arbeit für mich, die ich morgen früh erledigen kann, während Sie mit der Delegation unterwegs sind?” Als ich näher komme, fallen mir die winzigen Bartstoppeln auf, die Wangen- und Kinnpartie überziehen. Er sieht merkwürdig zerzaust aus, und in seinen Augen bemerke ich einen fremdartigen Ausdruck, der mir noch nie an ihm aufgefallen ist.
    Nun starrt er aus dem Fenster in den düsteren Himmel hinaus. “Ich war heute in Auschwitz”, sagt er plötzlich. Auschwitz. Das Wort genügt, um mich frösteln zu lassen. Bereits vor der Zeit im Ghetto hatten wir Gerüchte über das Lager gehört. Ursprünglich war von einem Arbeitslager für politische Gefangene die Rede gewesen. Während meiner letzten Monate im Ghetto hatten diese Geschichten aber eine immer grausamere Wendung genommen. Angeblich war das Lager voller Juden, die dort jedoch nicht arbeiteten, sondern in Scharen starben. Seit ich bei Krysia bin, habe ich nichts weiter darüber gehört. In der Wawelburg spricht niemand davon. Auschwitz. Jetzt verstehe ich, warum der Kommandant getrunken hat.
    Ich weiß nicht so recht, was ich entgegnen soll. “Ja?”, erwidere ich schließlich und bemühe mich um einen interessierten Tonfall, der ihn vielleicht zum Weiterreden veranlasst. Vielleicht erfahre ich etwas, das ich an Alek weitergeben kann. Aber minutenlang schweigt er.
    “Ja”, antwortet er schließlich. “Ich hätte nicht gedacht …” Er muss diesen Satz nicht zu Ende führen, ich verstehe auch so, was er meint. Der Kommandant sieht sich als einen guten Menschen, als einen Mann der Kunst und Kultur. In seiner verqueren Denkweise ist der Dienst am Reich eine ehrbare, erhabene Angelegenheit, und etwaige Unannehmlichkeiten sind notwenige Begleiterscheinungen, die man tolerieren kann. Er hat sich in der Wawelburg einquartiert, hier herrscht er aus sicherer Distanz. Von seiner Warte aus ist das Ghetto nichts weiter als ein Viertel, in dem die Juden leben. Und Plaszow ein Arbeitslager. Ich bin mir sicher, seine Zeit in Sachsenhausen rechtfertigt er damit, dass es ein Gefängnis für Kriminelle ist, die ein solches Leben verdient haben. Er hat den Hunger, die Krankheiten und das Elend nicht gesehen. Bis heute. Was er in Auschwitz erlebt hat, hat ihn ganz offenbar erschüttert.
    “Es wird nicht schön

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