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Der Kommandant und das Mädchen

Der Kommandant und das Mädchen

Titel: Der Kommandant und das Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pam Jenoff
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womöglich Papiere zurückgelassen hat. Der Schreibtisch und der Tisch bei der Sitzgruppe sind bis auf die Tassen leergeräumt, nicht aber der Konferenztisch. Dort liegt nach wie vor die Karte ausgebreitet, über der der Kommandant und die anderen saßen, als ich den Kaffee servierte. Ich mäßige meine Begeisterung, während ich mich dem Tisch nähere. Es ist nur eine Landkarte. Wäre darauf etwas Wichtiges zu entdecken, hätten sie sie nicht liegen lassen.
    Ich werfe einen Blick über die Schulter, um Gewissheit zu haben, dass Malgorzata mir nicht gefolgt ist. Dann gehe ich langsam weiter, halte das Tablett in der einen und eine leere Tasse in der anderen Hand. Für jeden, der unerwartet eintritt, sieht das so aus, als würde ich lediglich aufräumen. Ich schaue genauer hin und erkenne, dass es sich um eine auf Deutsch beschriftete Karte von Kraków handelt. Mehrere Gebäude sind rot eingekreist: die Wawelburg, die Verwaltung am Außenring, Kazimierz, das Ghetto. Rote Pfeile führen von Kazimierz zum Ghetto. Vermutlich die Orte, die sie besucht haben, denke ich und will weiter aufräumen. Doch als ich nach der letzten Tasse greife, stutze ich. Die Pfeile zeigen gar nicht auf das Ghetto, sondern verlaufen hindurch und enden erst beim Arbeitslager Plaszow. Das Ghetto ist mit Bleistift durchgekreuzt. Vor Schreck erstarre ich, meine Nackenhaare sträuben sich. Warum ist das Ghetto durchgekreuzt? Was bedeutet das? Eine weitere
akcja
? Sollen alle Bewohner des Ghettos nach Plaszow deportiert werden? Hör auf damit, ermahne ich mich und spüre, wie sich mein Magen umzudrehen beginnt. Du weißt gar nichts, also beruhige dich. Ich nehme mir vor, Alek davon zu erzählen, wenn ich ihn am Dienstag treffe.
    Nachdem ich das Tablett in die Küche gebracht habe, kehre ich in mein Büro zurück. Der Rest des Tages verläuft ereignislos. Einmal gehe ich zur Toilette, ansonsten entferne ich mich nicht von meinem Schreibtisch, da der Kommandant anrufen könnte. Als es fünf Uhr wird, schaut Malgorzata herein. “Ich kann auch noch bleiben, wenn Sie möchten”, bietet sie mir an.
    Aber ich schüttele den Kopf. Ich weiß nur zu gut, dass sie bleiben will, weil sie hofft, von mir etwas über die Delegation zu erfahren. Ehrlich gesagt freue ich mich nicht darauf, ganz allein im Büro zu bleiben, aber das ist mir immer noch lieber, als von Malgorzata ausgehorcht zu werden. “Nein, danke. Es gibt nichts, was erledigt werden müsste.” Als sie geht, höre ich auf dem Korridor die anderen Sekretärinnen reden, die ebenfalls Feierabend machen. Zunächst bin ich damit beschäftigt, das Ablagesystem zu vervollständigen, mit dem ich zu Beginn der Woche angefangen habe, und das Adressregister des Kommandanten auf einen aktuellen Stand zu bringen. Das einzige Geräusch kommt vom Ticken der Standuhr. Als ich mit meiner Arbeit fertig bin, stehen die Zeiger gerade einmal auf viertel vor sieben. Die Delegation bekommt in diesem Augenblick bestenfalls den ersten Gang im Wierzynek serviert, dem vornehmen polnischen Restaurant, das ich Diedrichsen empfohlen habe. Es könnte durchaus sein, dass ich noch etliche Stunden hier ausharren muss. Schließlich hole ich mein Essen aus der Tasche: kalter Eintopf vom Vortag und ein großes Stück Brot. Mein Blick schweift durch das leere, stille Büro, und ich muss seufzen, als ich mir vorstelle, wie Krysia und Łukasz ohne mich zu Abend essen. Ich überlege, ob sich der Kleine anstellen wird, weil ich nicht zu Hause bin.
    Eine weitere Stunde vergeht ereignislos, und noch immer hat der Kommandant nicht angerufen. Ich beginne mich zu fragen, ob er mich womöglich vergessen hat. Als ich es nicht länger aushalte, stürme ich aus dem Zimmer zur Toilette. Auf dem Rückweg höre ich beim Betreten des Empfangsbereichs, dass mein Telefon klingelt. Da es der Kommandant sein könnte, renne ich ins Vorzimmer und reiße den Hörer vom Apparat. “
Tak?”
, melde ich mich außer Atem und vergesse dabei völlig, Deutsch zu sprechen.
    Es ist nicht der Kommandant, sondern Oberst Diedrichsen. “Ist er da?”, fragt er ungeduldig.
    “Wer?”
    “Natürlich der Kommandant.” Er klingt aufgebracht. “Er sagte, er muss noch einmal zurück ins Büro, und hat mich gebeten, die Delegation zum Hotel zu bringen.”
    “Ich glaube nicht …”, beginne ich, aber dann bemerke ich unter der Tür zum Nebenzimmer einen schwachen Lichtschein. “Oh, doch, er ist hier. Er muss hereingekommen sein, während ich kurz meinen Platz verlassen

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