Der Kommandant und das Mädchen
riesigen, leeren Wohnung zu verbringen, geplagt von den Erinnerungen an seine Frau. Ich habe in der Burg Gerüchte gehört, dass er verheiratet gewesen ist, aber er selbst war nie darauf zu sprechen gekommen. Heute Abend allerdings hatte ich das Gefühl, er habe einen Geist gesehen. Vielleicht lag es am Alkohol, vielleicht auch an den Eindrücken des Tages.
Auschwitz. Wieder läuft mir ein Schauder über den Rücken. Ich muss Alek bei unserer nächsten Begegnung vom Besuch des Kommandanten in Auschwitz erzählen, außerdem von der Karte auf dem Konferenztisch. Es könnte von Bedeutung sein, wenn ich bedenke, wie leer Richwalders Augen mich angesehen haben. Ich fröstele, als wir an den Häusern und Bäumen vorbeifahren und die letzten Spuren des Sonnenuntergangs hinter uns lassen.
Krysia und Łukasz schlafen bereits, als ich nach Hause komme, daher schleiche ich auf Zehenspitzen nach oben und ziehe mich leise um. Obwohl mich die Ereignisse der letzten Stunden in Verwirrung gestürzt haben, bin ich von diesem Tag so erschöpft, dass ich sofort nach dem Zubettgehen einschlafe. Ich träume, ich befinde mich in einem Zug, der in Richtung der Berge rast. Ganz sicher ist Jakub auch in diesem Zug – wenn ich ihn doch nur finden könnte. Ich zwänge mich durch die überfüllten Abteile und suche nach ihm. Dann endlich fällt mir ein Mann auf, der mit seiner schlanken Statur und der gleichen Haarfarbe von hinten wie Jakub aussieht. Er ist mir ein paar Meter voraus, doch ich gehe schneller und schneller, bis ich sogar renne, um ihn einzuholen. Dann endlich bin ich nah genug bei ihm, um ihn an der Schulter zu fassen. “Jakub!”, rufe ich, während er sich umdreht, doch in dem Moment erstarre ich mitten in der Bewegung. Das ist nicht das Gesicht meines Mannes, sondern das … des Kommandanten.
“Oh!”, rufe ich laut und sitze aufrecht und außer Atem im Bett. Meine Gedanken überschlagen sich. Monatelang bin ich in meinen Träumen Jakub nachgejagt, was einen Sinn ergab, weil er mein Mann ist. Aber das …? Ich verstehe das nicht. Doch ich ermahne mich, dass es nur ein Traum gewesen ist. Ich stehe im Büro unter großem Druck, und durch die sonderbare Unterhaltung mit dem Kommandanten bin ich aufgewühlt. Nur deshalb träume ich so etwas.
Ich lege mich wieder hin und ziehe die Decke bis zum Kinn, bin aber von meinen Erklärungen nicht so recht überzeugt. Ein beunruhigender Gedanke schleicht sich in meinen Kopf: Vielleicht bedeutet dieser Traum etwas ganz anderes. Nein. In der Dunkelheit liege ich da und schüttele den Kopf. Er bedeutet nichts anderes, so etwas wäre völlig unmöglich. Ich zwinge mich, an Jakub zu denken, bis ich irgendwann wieder einschlafe.
Als ich am nächsten Morgen ins Büro komme, ist der Kommandant nicht da. Laut Terminplan wird er sich mit der Delegation im Hotel treffen und sie dann zum Ghetto und nach Plaszow begleiten. Gegen Mittag machen sich die SS-Leute auf den Weg zurück nach Berlin. Da ich nicht wie am Vorabend wieder dadurch auffallen will, dass ich nicht an meinem Platz sitze, verbringe ich die Mittagspause an meinem Schreibtisch. Genau um viertel nach zwölf geht die Tür auf, der Kommandant kommt herein. “Anna, kommen Sie bitte mit”, sagt er knapp, während er sein Büro betritt.
Ich folge ihm nach nebenan, wo er sich den Stapel Papiere vornimmt, den ich ihm hingelegt habe. Ich stehe nicht weit von ihm entfernt und mustere sein Gesicht. Ob er etwas über den gestrigen Abend verlauten lassen wird? Falls ihm seine Trunkenheit peinlich sein sollte, lässt er sich davon zumindest nichts anmerken. Vielleicht kann er sich nicht einmal daran erinnern. Von den dunklen Augenringen abgesehen, wirkt er so wie immer. Er blickt von den Papieren auf. “Ich reise morgen nach Berlin.”
“Morgen? Nach Berlin?”, wiederhole ich überrascht.
“Ja. Es gibt da einige Dinge, um die ich mich persönlich kümmern muss.” Er gibt mir verschiedene Unterlagen. “Mein Reiseplan.”
Er durchquert das Büro und gibt mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Ich setze mich aufs Sofa und erwarte, dass er so wie üblich vor mir auf und ab geht, aber zu meinem großen Erstaunen setzt er sich neben mich. Sein Geruch steigt mir in die Nase. “Wie Sie sehen, hat Oberst Diedrichsen meine Reiseplanung schon erledigt”, fährt er fort, doch ich kann ihn kaum hören, so laut ist das Rauschen in meinen Ohren. Die unerwartete Abreise des Kommandanten und seine körperliche Nähe sind eine Kombination, die mich
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