Der Kommissar und das Schweigen - Roman
Neuigkeit wie ihre Freundin gegenübergestellt wurde, hegte zumindest Jung den Verdacht, dass man dreimal nacheinander nun dem gleichen stummen Verhalten begegnen würde. Dem gleichen knochenharten Autismus.
Aber so war es dann doch nicht gewesen. Bei Frau Ubrecht brach der Damm. Bevor sie überhaupt begriffen, was los war, hatte sie mehrere Schläge und Tritte ausgeteilt, auf Jungs Kopf, Reinharts Schienbein und Jungs Rücken, einen Stuhl an die Wand geworfen und eine Vase quer durch das Zimmer, um dann schreiend direkt gegen die Wand zu rennen. Letzteres wohl in einem verzweifelten Versuch, sich selbst knockout zu schlagen. Nach einer Weile hatte man sie auf den Boden zwingen können, und als die bedeutend erfahreneren Wärter eintrafen,
war ihr Schreien in eine Art epileptisches Gurgeln übergegangen. Der ältere der beiden Männer hatte ohne zu zögern eine Spritze herausgeholt, sie der Frau direkt in den Bauch gerammt, worauf sie innerhalb von zehn Sekunden eingeschlafen war.
Während der dritten Konfrontation – mit Ulriche Fischer, mit der Jung ja bereits geredet hatte – blieben die Wärter in einem angrenzenden Zimmer, aber als Reinhart ihr die Neuigkeit ins Gesicht schleuderte, diesmal schon mit einiger Vorsicht und gesenktem Visier, da reagierte sie die ersten Sekunden nur mit dem gleichen Schweigen wie Madeleine Zander. Dann sank sie über dem Tisch zusammen, schlang sich die Arme um den Kopf und brach in Tränen aus.
Ein lautes, klagendes Weinen, als fände eine große Trauer endlich den Weg aus ihrer Brust, nachdem sie schon viel zu lange dort verborgen gewesen war. Eine Analyse, die auch mit den kurzen Äußerungen übereinstimmte, die ihr später entlockt werden konnten.
»Ich wusste es!«, jammerte sie und rieb sich mit geballten Fäusten über das Gesicht und die Stirn. »Es konnte gar nicht anders sein! Er hätte uns nicht auf diese Art verlassen! Das hätte er nie gemacht!«
Sehr viel mehr wurde nicht gesagt, und zumindest Inspektor Jung war zu diesem Zeitpunkt bereits so mitgenommen, dass er voller Dankbarkeit den Arzt empfing, der aus Anlass von Frau Ubrechts Zusammenbruch herbeigerufen worden war und der jetzt hereinkam und sich wunderte, was denn zum Kuckuck hier vor sich ginge.
»Routineuntersuchung«, hatte Reinhart erklärt. »Aber wir sind jetzt fertig.«
Fertig fühlte sich auch Jung, als er auf dem Parkplatz vor Grimm’s Hotel aus dem Auto stieg. In so hohem Maße, dass er entschlossen Reinharts Vorschlag eines Gute-Nacht-Schlucks ablehnte und sich stattdessen direkt auf sein Zimmer begab, wo er sich sofort hinlegte, ohne mehr als Jacke und Schuhe auszuziehen.
Ein teuflischer Mittwoch. Hatte das nicht schon mal jemand gesagt?
Da war was mit Penderecki.
Etwas mit diesem schmerzerfüllten polnischen Requiem, das nichts anderem ähnelte und das ihm fast jedes Mal das Gefühl der Freiheit gab. Rein und erhaben wie eine Kathedrale.
Berührt vom Göttlichen, wie Mahler gesagt hätte. Sein guter Freund, der Dichter. Nicht der Komponist.
Natürlich war es auch eine Frage der Spannung. Spannung, die sich entlud, und Spannung, die sich auflud, eine Art Akupunktur für die Seele und ein Fluchtweg fort von der Mühsal des Fleisches. Auch Mahlers Worte höchstwahrscheinlich ... etwas, das sicher für jede Musik galt, aber nirgends war es so deutlich und so schmerzhaft schön wie bei Penderecki.
Und eingehüllt in diese Klangwolke grausamer Klarheit legte er die hundertsechzig Kilometer von Stamberg nach Sorbinowo zurück.
Und eingehüllt in diese Klangwolke löste er auch die noch offenen Fragen im Waldingenfall.
In diesem Zwei-Wochen-Fall. Denn wie immer er diese üble, sich dahinziehende Zeit auch berechnete – mehr als vierzehn Tage waren nicht vergangen, seit er oben auf dem Parkplatz gestanden und über diese Sommeridylle mit dem dunklen glitzernden Wasser geschaut hatte.
Zwei Wochen.
Zwei vergewaltigte und ermordete Mädchen. Ein erschlagener Priester.
Eine abgebrannte Kirche und eine Sekte, die unterging. Das war das Ergebnis in Kurzform.
Die Summe seines letzten Falls.
Ein schönes Endresultat, dachte er. Zweifellos.
Und die Lösung, was sollte man von ihr halten? Die Lösung – die ihm via einem ganz ordinären Telefonbuch in den Schoß gefallen war. Via einem äußerst trivialen Buchstabierfehler. Der alte Gedanke von Linien und Mustern und dem
Eingreifen in das Schicksal erschien ihm so selbstverständlich, dass er sich nicht einmal die Mühe machte,
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