Der Kommissar und das Schweigen - Roman
nickte.
»Ja, ich wollte es wissen ... ja, er ist bis ans Ende des Wegs gegangen. Da gab es keinen Zweifel.«
Der Hauptkommissar spürte erneut, wie ein hilfloser Ekel in ihm aufstieg, und leerte als Gegengift seinen Cognac mit einem Zug.
»Und wann war das alles?«, fragte er.
»Vor vier Jahren«, antwortete sie. »Vor vier Jahren und zwei Monaten ...«
»Sie haben keine Anzeige erstattet?«
»Nein«, sagte sie und holte tief Luft. »Das habe ich nicht ...«
Van Veeteren betrachtete ihre Hände, die das Glas krampfhaft festhielten. Er könnte ihr jetzt Vorwürfe machen. Den Ton schärfer klingen lassen und sie fragen, wie um alles in der Welt sie so etwas nur hatte unterlassen können, aber dafür bestand natürlich kein Anlass.
Kein Grund, sie länger zu quälen; das ganze Gespräch hatte keine zehn Minuten gedauert, und eigentlich war es genauso abgelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte.
Oder befürchtet eher.
Oder gewusst?
»Ich werde versuchen, dafür zu sorgen, dass Sie in die Sache nicht hineingezogen werden«, sagte er. »Aber es ist schwer zu sagen, wie es laufen wird ...«
Sie unterbrach ihn.
»Ich stehe dazu«, erklärte sie. »Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, ich will nicht den gleichen Fehler noch einmal begehen.«
»Na gut«, sagte Van Veeteren. »Ich lasse von mir hören, wenn es aktuell wird.«
Sie gaben sich wieder die Hand, und er verließ sie. Draußen auf der Straße merkte er, dass er fror und dass es eine Kälte war, die nichts mit dem noch immer warmen und angenehmen Sommerabend zu tun hatte. Überhaupt nichts.
Er suchte eine Telefonzelle und rief erneut in Sorbinowo an, aber nur, um Frau Millers aufs Band gesprochene Mitteilung zu hören, dass die Polizeistation für heute geschlossen sei und
dass man gerne zwei andere Telefonnummern anrufen könne, wenn man Hinweise zum Waldingenfall hätte.
O ja, dachte Van Veeteren. Das kann man wohl behaupten, dass ich die habe.
Dennoch unterließ er es, weiter zu telefonieren. Trotz allem blieben noch einige Fragezeichen – beispielsweise was Jellineks Tod betraf –, und am besten wäre es natürlich, wenn er seinen Kollegen die gesamte Lösung auf einem Silbertablett servieren könnte. Hübsch angerichtet und mit allen Zutaten versehen.
Ein Argument, das natürlich ziemlich nach Eitelkeit roch, aber falls das hier wirklich sein letzter Fall war, so war ihm das wohl nachzusehen.
Und es gab natürlich auch nichts – ganz und gar nichts –, das besser geeignet war, noch verbleibende Fragezeichen zu klären als eine Autofahrt. Eine lange, ruhige Autofahrt durch die Nacht.
Er dachte eine Weile nach. Mit Penderecki, beschloss er schließlich.
Wieder einmal Penderecki.
36
»Es ist fünf vor zwölf«, sagte Reinhart. »Wir können ebenso gut auch gleich ins Hotel fahren. Ich glaube nicht, dass die immer noch dort hocken und Pläne schmieden.«
»Wir können ja auch anrufen und nachfragen«, stimmte Jung zu.
»Aber was wir ihnen über die Damen sagen sollen, das weiß ich nicht.«
»Ja, mein Gott«, stöhnte Reinhart. »Die Lauremaa hat’s wahrscheinlich auf den Punkt gebracht, die sind einfach anders als wir.«
»Bestimmt«, sagte Jung und unterdrückte ein Gähnen. »Aber etwas unchristlich war unsere Vorgehensweise schon, oder?«
Der Besuch im Wolgershuus war überstanden, und vielleicht war das Wort unchristlich nicht das passendste in diesem Zusammenhang. Aber wenn Jung seinen Eindruck zusammenzufassen versuchte, kam er auf die Schnelle auf keinen anderen Begriff. Er wusste nur, dass er so etwas noch nie erlebt hatte. Noch niemals.
Unchristlich also. Dennoch waren sie bis auf den Punkt nach der vereinbarten Taktik vorgegangen. Diskretion. Professionelles Auftreten, nicht mehr herzumachen, als notwendig war und die Lage erforderte. Ohne große Probleme hatten sie einen neutralen, etwas abseits gelegenen Raum gefunden, in den sie die Frauen baten, um ihnen ohne große Vorreden die Neuigkeit zu verkünden.
Die Neuigkeit von Oscar Jellineks Tod.
Einer nach der anderen. Zuerst Madeleine Zander.
Reaktion: Gar keine. Sie hörte ihnen eine halbe Minute zu, dann drehte sie sich auf den Hacken um und verließ den Raum. Jung meinte einige Zuckungen in einem Mundwinkel bemerkt zu haben, aber das war auch schon alles. Sowohl er als auch Reinhart hatten sich zweifellos nach dieser ersten Runde etwas unbehaglich gefühlt – und als dann Mathilde Ubrecht hereingeführt und der gleichen unverschleierten
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