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Der Kommissar und das Schweigen - Roman

Der Kommissar und das Schweigen - Roman

Titel: Der Kommissar und das Schweigen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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isoliert?«

    »Das verstehen Sie nicht, Herr Kommissar. In gewissen Situationen ist es notwendig, das Geistige zu schützen. Es keinen Stößen und Dornen auszusetzen. Gerade in diesem Abschnitt ihrer Ausbildung ist das ganz einfach unumgänglich.«
    »Sie weigern sich, mich auch nur mit einigen von ihnen sprechen zu lassen? Für zwei Minuten?«
    »Das, was über lange Zeit aufgebaut wurde, ist so schnell zerstört. Ich weiß, das mag für Sie schroff klingen, Herr Kommissar, aber Sie müssen verstehen, dass meine Absichten nur die besten sind. Wir glauben an das, was wir tun. Wir üben unsere Religion aus, das kann man leicht verhöhnen und verspotten, aber wir haben unser gesetzlich festgelegtes Recht dazu ... da Sie doch so viel Wert auf Recht und Gesetz zu legen scheinen.«
    Er schaute auf die Uhr. Van Veeteren schob seinen Zahnstocher wieder rein. Es vergingen fünf Sekunden.
    »Und der Anruf?«, fragte er. »Diese Frau, die behauptet, dass eines der Mädchen ermordet wurde, was halten Sie von der Sache?«
    »Böswilligkeit«, antwortete Jellinek wie aus der Pistole geschossen. »Das ist nicht das erste Mal, dass wir so etwas erleben müssen, Herr Hauptkommissar. Wir haben da wie gesagt eine gewisse Erfahrung.«
    Van Veeteren dachte nach.
    »Und die Damen«, versuchte er es. »Ihre Mitarbeiterinnen, wenn ich einige von ihnen eine Weile befrage, würde das Ihren geistigen Palast ebenfalls zerstören?«
    »Natürlich nicht«, erklärte Jellinek. »Ich muss Sie aber jetzt verlassen, es ist Zeit für die Gebetsstunde. Wenn Sie hier bleiben, werde ich eine von ihnen bitten, zu Ihnen zu kommen.«
    Er verließ das Zimmer. Van Veeteren schloss seine Augen und ballte die Fäuste. Nach einer Weile faltete er sie stattdessen.
    Heilige Einfalt, dachte er. Herr, gib mir Kraft!

    Während der Rückfahrt fasste er einen Entschluss.
    Nicht dahingehend, die Nachforschungen zu intensivieren, und nicht dahingehend, Jellineks geistiges Fahrzeug in Grund und Boden zu rammen. Sondern dahingehend, noch ein paar Tage in Sorbinowo zu bleiben.
    Vielleicht nur einen. Vielleicht mehrere.
    Denn da war etwas. Es war nicht klar, was, aber irgendwo in dieser Geschichte – die vermutlich nicht einmal wirklich eine Geschichte war –, gab es etwas, das ihn erinnerte, an ... ja, an was eigentlich?
    Er wusste es nicht. An ein hinterhältiges und unmotiviertes Bauernopfer? Ein Ungeheuer, verborgen in Dummheit? Warum nicht?
    Vielleicht war es ja auch nur Einbildung. Die Frau, mit der er zehn Minuten gesprochen hatte, war dieselbe gewesen, die ihn am Auto abgeholt hatte. Sie hatte sich ihm als Schwester Madeleine vorgestellt und nicht viel anderes zu erzählen gehabt als das, was Jellinek ihm bereits verkündet hatte.
    Außer vielleicht der Tatsache, dass sie seit Beginn beim Reinen Leben dabei war. Im Unterschied zu den Schwestern Ulriche und Mathilde, die ein wenig später dazugestoßen waren.
    Dass man ein Kollektiv war, aber Jellinek der geistige Führer.
    Dass ihr Leben sich damals vor elf Jahren vollkommen verändert hatte und dass sie seitdem in Licht und Reinheit lebte.
    Dass die drei Schwestern die Arbeit im Ferienlager untereinander aufteilten, dass die Mädchen – alle zwölf – immer noch in der Finsternis wanderten, aber auf dem Weg ins Licht waren und dass alles in Gottes Händen lag.
    Und in denen von Oscar Jellinek.
    Sowie dass dies außerdem alles sicher Dinge waren, von denen der Hauptkommissar sich vermutlich keinen Begriff machen konnte, da er ja nicht geweiht war.
    Van Veeteren spuckte einen malträtierten Zahnstocher durch das Seitenfenster und fluchte laut und ausführlich vor sich hin. Er versuchte zu begreifen, was das für ein anderes
dunkles Gefühl war, das in ihm auf der Lauer lag, seit er zwischen den Fichten hinausmanövriert war.
    Eigentlich schon vorher. Während er mit Jellinek gesprochen hatte. Während er gewartet und zugesehen hatte, wie die Mädchen in geordneten Reihen vom Bad heraufkamen. Während er den frommen Ergüssen von Schwester Madeleine gelauscht hatte.
    Mit der Zeit wurde ihm klar, dass es sich dabei um eine Frage der Ohnmacht handelte.
    Reine, nackte Ohnmacht.
    Mit einer geistigen Kraftanstrengung unterdrückte er sie und zündete sich stattdessen eine Zigarette an.
    Es gibt viele unbekannte Zutaten in dieser Suppe, stellte er fest. Viel zu viele. Wobei nicht einmal klar ist, ob es wirklich eine Suppe ist.
    Was für ein Unsinn, musste er sich ein paar Sekunden später selbst eingestehen.

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