Der Kommissar und das Schweigen - Roman
ich nichts mehr am Hut.«
»Und du bist nicht dazu angeregt worden, das wieder aufzufrischen, nachdem du Das Reine Leben kennen gelernt hast?«
Przebuda lachte.
»Nein, aber die sollte man vielleicht dennoch dafür loben, dass sie sich um einige Menschen kümmern, die sonst in einer Anstalt sitzen würden. Und dann auf Kosten der Gesellschaft... aber die Sache hier mit den Kindern ist natürlich etwas anderes. Vermutlich wäre ein bisschen Wallraff-Spiel notwendig, um ihnen richtig auf den Zahn zu fühlen. Man müsste eine kecke Dreizehnjährige mit einem Handy einschleusen. . . aber ich nehme an, es gibt wichtigere Dinge, um seine Zeit totzuschlagen.«
Van Veeteren nickte zustimmend.
»Das stimmt«, sagte er. »Was mich betrifft, so werde ich in einer guten Woche in Urlaub gehen. Wenn also niemand innerhalb der nächsten zwölf Stunden ein verschwundenes Mädchen anschleppt, werde ich abfahren. Und ich kann nicht behaupten, dass ich bisher besonders viel ausgerichtet habe ... der Filmclub und dieser Abend hier sind eigentlich die einzigen Ergebnisse, wenn ich ehrlich sein soll. Was ja an sich auch nicht schlecht ist.«
»Nun, nun«, sagte Przebuda.
»Könnte ich mir für alle Fälle die Papiere über Jellinek als Nachtlektüre mitnehmen?«, fragte der Hauptkommissar. »Ich
kann sie dir morgen in die Redaktion zurückbringen, bevor ich abfahre.«
»Aber natürlich«, sagte Przebuda und breitete die Arme aus. »Dann lässt du den Faden doch noch nicht fallen?«
Van Veeteren drückte die letzte Zigarette des Abends aus.
»Nein«, sagte er. »Ich möchte ihm so lange nachgehen, bis er von allein reißt. Das ist eine alte schlechte Angewohnheit von mir.«
Er schälte sich aus dem Sessel und merkte sofort, dass der abschließende Bourgogne doch schwerer gewesen war als gedacht.
Das mit dem Lesen heute Abend wird wohl doch nicht so einfach werden, dachte er. Ist eher die Frage, ob ich mich so lange wach halten kann, bis ich mein Bett erreiche.
Was natürlich nur ein frommer Wunsch war – besonders im Lichte dessen betrachtet, was ihn im Laufe der Nacht noch erwarten sollte.
Aber davon hatte er zu diesem Zeitpunkt nicht den Schatten einer Ahnung – weder empirisch noch intuitiv.
14
Normalerweise – das heißt, als er noch nicht der stellvertretende Polizeichef für den Distrikt Sorbinowo war – hätte er natürlich in so einem Fall den Anrufbeantworter alle Gespräche entgegennehmen lassen. Daran bestand gar kein Zweifel. Deborah und er selbst waren gerade jeder in seine Ecke des neuen Wassmeyersofas gesunken, eine Pralinenschachtel auf dem Tisch vor sich, der Film mit Clint Eastwood war noch nicht bis zum ersten Reklameblock gekommen, und ein angenehmer warmer Luftzug zog durch die offene Terrassentür herein. Mit zärtlicher Hingabe massierte er ihre nackten Füße.
Rein physisch betrachtet, war es ein fast perfekt zu nennender Abend.
»Telefon«, sagte Deborah und schob sich eine Praline zwischen die roten Lippen.
Kluuge seufzte und schob sich vom Sofa hoch. Das nächststehende Telefon befand sich im Schlafzimmer, und er zog die Tür hinter sich zu, um seine Ehefrau nicht beim Fernsehen zu stören.
Typisch, dachte er, als er den Hörer aufnahm. Aber wenn man eine Verantwortung trägt, dann muss man sie halt tragen.
»Polizeichef Kluuge.«
»Hallo?«
Das genügte, damit er die Stimme wiedererkannte. Innerhalb dem Bruchteil einer Sekunde waren Clint, seine Ehefrau und die Pralinen wie weggeblasen aus seinen Gedanken.
»Ja, Kluuge am Apparat.«
»Ich bin es wieder.«
»Das höre ich. Was wollen Sie?«
»Ich möchte Ihnen einen Tipp geben.«
»Einen Tipp?«
»In Waldingen gibt es ein totes Mädchen.«
»Wir sind dabei, die Sache zu untersuchen ...«
»Das weiß ich. Aber Sie kommen ja nicht weiter. Wenn Sie dorthin fahren und die Leiche finden, vielleicht glauben Sie mir dann.«
»Ich glaube nicht, dass es eine Leiche gibt«, erwiderte Kluuge. »Sie rufen doch nur immer wieder an, um sich wichtig zu machen. Wir haben wirklich ...«
»Fahren Sie an der Kolonie vorbei ...«
»Was?«, fragte Kluuge.
»Ich beschreibe Ihnen den Weg dorthin.«
»Wohin?«
»Zur Leiche. Ich sage Ihnen, wo Sie sie genau finden, dann können Sie hinfahren und sie angucken. Und dann begreifen Sie vielleicht, dass ich die Wahrheit sage.«
Kluuge schluckte.
»Jaha?«, war alles, was er herausbrachte.
»Hundert Meter nach der Kolonie geht ein kleiner Weg nach
rechts ab. Schlagen Sie den ein, und
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