Der Kommissar und das Schweigen - Roman
dass sie sie bald erreicht hatte! – unbedingt den schweren Deckel des Vergessens legen musste. Sollte das Gras der Zeit doch dicht und üppig darüber wachsen, wie es in dem Lied hieß – verdammt noch mal, wie konnte sie jetzt an Lieder denken? Weder sie noch sonst ein Mensch sollte auch nur ahnen können, wozu sie dieses Wasser benutzt hatte. Oder dass es überhaupt existierte.
In einer weit entfernten Zukunft.
Die Quelle. Ihre Kraft. Die innere Stimme.
Es war jetzt wirklich dunkel geworden. Sie musste eine ganze Weile dagestanden und auf das Unbegreifliche gestarrt haben, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie schaltete für einen Moment die Taschenlampe ein, begriff aber schnell, dass das Licht nicht ihr Bundesgenosse war, und knipste sie wieder aus. Schob einige Zweige zur Seite und zog den mageren, nackten Körper ganz hervor. Hockte sich hin und ergriff ihn unter dem Rücken und im Kniegelenk, für einen kurzen Augenblick überrascht über die Starre der Muskeln und Glieder, und es durchlief sie schnell ein Erinnerungsbild einer missglückten Pferdegeburt, bei der sie vor vielen Jahren dabei gewesen war.
Der Körper war nicht schwer; auf jeden Fall deutlich unter fünfzig Kilo, und sie trug ihn ohne größere Anstrengung. Eine Weile schwankte sie zwischen verschiedenen Alternativen hin und her, bevor sie schließlich an die Stelle kam, an der sie von neuem ihre innere Stimme hörte. Vorsichtig platzierte sie den Körper in halb sitzende Position gegen eine Espe, eine riesige Espe mit einem Himmel flüsternden Laubs, und begann sie mit
dem zuzudecken, was sie an Zweigen, Gestrüpp und Vorjahreslaub fand.
Nicht um sie zu verstecken natürlich. Sondern nur, um sie im Namen des Anstands ein wenig zu bedecken.
Als sie fertig war, war es so dunkel, dass sie ihr Werk gar nicht richtig sehen konnte, aber mit einem Gefühl der gleichen sonderbaren Ehrfurcht blieb sie noch eine Weile davor stehen, mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen.
Vielleicht betete sie ja. Vielleicht waren es auch nur ein paar unzusammenhängende Worte, die sie durcheilten.
Dann durchfuhr sie ein weiß glühender Schreck wie ein unverhoffter Flügelschlag. Eilig zog sie sich zurück und holte den Spaten, wo sie ihn abgelegt hatte. Ging zurück auf den Weg und rannte davon, so schnell sie nur konnte.
13
»Intuition?«, fragte Przebuda und schmunzelte über den Rand seines Weinglases hinweg. »Und du meinst nicht, dass du hinsichtlich der Intuition in eine Sackgasse geführt worden bist? Ich persönlich vertraue ihr ja. Ich glaube ganz einfach, dass es sich um eine Fähigkeit handelt, die ein paar Stufen übersprungen hat ... in der Ursache-Wirkung-Kette, meine ich. Oder sie übersprungen zu haben meint. Sie ist ein wenig allem voraus, aber das ist nicht so wichtig. Wir besitzen sie, aber begreifen nicht, warum wir sie eigentlich besitzen können. Trotz allem nehmen wir ja jede Sekunde enorme Mengen an Informationen auf ... alles wird gespeichert, aber nur ein Bruchteil davon gelangt in das aktive Bewusstsein ... meistens vollkommen nutzlos, weil wir so schrecklich rezeptiv sind. Wir sind ja nun einmal auch nicht mehr als Menschen.«
Van Veeteren nickte und streckte zufrieden seine Beine unter dem Tisch aus. Es war Montagabend, und er saß zusammengesunken in einem alten Ledersessel in Andrej Przebudas großem Arbeits- und Wohnzimmer. Das tat er schon seit einer geraumen
Weile. Schnupperte an einem außerordentlichen 81er Chateau Margeaux und kaute Birnenscheiben mit Camembert. Geräucherten. Das Essen hatten sie in der Gesellschaft von Eisenstein, de Sica, Bergman und Tarkowskij eingenommen, und erst als sie die Tafel aufgehoben und zu den Sesseln gewechselt hatten, war das Gespräch zu der Frage nach dem eigentlichen Motiv des Hauptkommissars für seinen Sorbinowobesuch übergegangen.
Der jetzt also um einen weiteren Tag verlängert worden war.
»Wahrscheinlich ist es das gleiche Phänomen wie bei neuen Entdeckungen in der Naturwissenschaft«, fuhr Przebuda fort.
»Der Forscher weiß bereits die Antwort, er hat die endgültige Lösung schon gesehen, bevor er überhaupt zu ihr gelangt ist. Hat sie zumindest erahnt. Wenn dem nicht so wäre, wäre er vermutlich gar nicht in der Lage, sie zu entdecken. Wir müssen ganz einfach schon ein Bild im Voraus haben, ich glaube, Rappaport hat darüber geschrieben, Sartre natürlich auch ... Pierre und das Café und so weiter, du weißt schon. Das ist einfach nur eine andere Seite des
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