Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kommissar und das Schweigen - Roman

Der Kommissar und das Schweigen - Roman

Titel: Der Kommissar und das Schweigen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
Vom Netzwerk:
Schauder durchlief ihn, und er schüttelte den Kopf. Reine Einbildung, dachte er. Nichts anderes als Einbildung. Heuchelei, Aberglauben und Altweibergeschwätz. Er ging um den Stein herum und beleuchtete den unteren Teil des Stamms. Schob vorsichtig mit dem Fuß einen Teil des heruntergefallenen Laubs und der Zweige zur Seite, und als er sich tiefer hinunterbeugte, sah er ganz deutlich – so deutlich, wie es nur möglich war –, dass das Bleichweiße, das aus den Zweigen hervorstach, eine Hand war.
    Eine ganz normale, ziemlich dünne und blutleere kleine Mädchenhand, und er hatte noch genügend Reaktionsvermögen, um sich schnell ein paar Meter seitwärts ins Gebüsch zu schlagen, bevor er sowohl Deborahs Broccoli-Pie als auch die acht Schokoladenpralinen erbrach, die er vor dem Fernseher noch hatte essen können.
    Und Polizeianwärter Kluuge begriff, dass er gerade jetzt – während dieses einsamen, eine Ewigkeit anhaltenden Augenblicks draußen im Wald – eine Erfahrung durchmachte, die ihren Schatten auf alle anderen Erfahrungen werfen würde. Sowohl gute wie schlechte. Vergangene wie zukünftige.
    Ich bin erwachsen geworden, dachte er verwundert. Erwachsen. Es war ein Gefühl, als wäre er in ein fremdes, ödes Land gestoßen worden, eine harte, unwirtliche Wirklichkeit,
von der er wusste, dass er sie nie wieder zur Seite schieben, hinter sich lassen oder vergessen könnte.
    Doch da war noch etwas anderes: eine Art bitterer Befriedigung, an der nicht zu rütteln war und über die er sich nicht so recht klar werden konnte.
    Aber das war jetzt gewiss auch nicht der richtige Zeitpunkt für derartige Überlegungen. Mit der Innenseite seiner Hand wischte er sich den Mund ab, löschte dann das Licht und begab sich eilig zurück zum Auto.

15
    Reinhart behauptete immer, dass es eigentlich nur eine einzige perfekte Methode gab, wenn es darum ging, festgefahrene Ermittlungen wieder in Schwung zu bringen: Man kippt einen halben Liter Whisky und vier Bier, legt sich anschließend ins Bett, und dann dauert es garantiert nicht länger als zwanzig Minuten, bis das Telefon klingelt und man eine neue Leiche am Hals hat.
    Ganz so schlimm sah es an diesem lauwarmen Abend in Sorbinowo wohl nicht aus, aber nachdem Van Veeteren beide Mitteilungen von Kluuge gelesen hatte, beschloss er dennoch, zunächst eine lange kalte Dusche zu nehmen, bevor er sich in die Finsternis hinaus aufmachte.
    Man soll eine Sommernacht nicht verschlafen! kam ihm wieder in den Sinn. Vielleicht sollten gewisse Gedanken lieber zum Platzen gebracht werden, bevor sie an die Oberfläche gelangten, dachte er, während er unter der Dusche stand und versuchte, sich den Bourgogne aus dem Gesicht zu spülen. Sie hatten so eine verdammte Tendenz dazu, sich zu bewahrheiten!
    Aber mit der Zeit fand sich die Konzentration wieder ein:
    Was, zum Teufel, war da draußen eigentlich passiert?
    Kluuges Mitteilungen waren im Grunde genommen klar wie Kloßbrühe gewesen. Vor allem die zweite:
    Totes Mädchen in Waldingen, Verstärkung unterwegs. Kluuge.
    Möchte wissen, ob die Presse auch schon da ist, dachte Van Veeteren, während er aus der Dusche stieg. Das aufmerksame Mädchen in der Rezeption zumindest schien den Inhalt der Bulletins nicht missverstanden zu haben. Er spielte eine Weile mit dem Gedanken, Przebuda anzurufen, vielleicht lag der ja noch nicht im Bett, aber nach reiflicher Überlegung ließ er es dann doch bleiben. War besser, barmherzig zu sein und ihm einen friedlichen Nachtschlaf zu gönnen; seine Zeit als Frontreporter hatte er mit Sicherheit schon hinter sich.
    Als er in das wartende Taxi stieg, war es ein paar Minuten nach eins; laut dem Mädchen an der Rezeption war Kluuges zweite Mitteilung kurz vor Mitternacht eingetroffen. Es gab also gute Gründe davon auszugehen, dass sowohl die Spurensicherung als auch der Gerichtsmediziner bereits am Fundort draußen in Waldingen waren. Wenn er sich nicht irrte, sollten es Leute aus Rembork sein, das lag am nächsten, aber in der Beziehung kannte sich Kluuge natürlich besser aus.
    Er ließ sich auf den Rücksitz fallen und gab bekannt, wohin er gefahren werden wollte.
    »Was, zum Teufel, wollen Sie denn da mitten in der Nacht?«, fragte der fettleibige Fahrer und gähnte so ausgiebig, dass sich sein Nacken in Falten legte.
    »Fahren Sie«, sagte Van Veeteren. »Schalten Sie das Radio aus und halten Sie den Mund.«
     
    Außer Kluuges Wagen waren noch drei andere vor Ort. Zwei kamen ganz richtig aus

Weitere Kostenlose Bücher