Der Kommissar und das Schweigen - Roman
wenn Sie linker Hand einen Findling passiert haben, finden Sie dort eine riesige Espe. Nur ein paar Meter hinter dem Stein, da liegt sie. Es ist nicht mehr als zwanzig Meter vom Weg entfernt ...«
»Warten Sie«, sagte Kluuge. »Ich muss mir einen Stift holen.«
»Nicht nötig«, widersprach die Frau. »Hundert Meter nach der Kolonie. Rechts in den Pfad. Bei der Espe hinter dem Findling. Sie werden sie schon finden.«
Eine Unmenge von Fragen ballten sich plötzlich im Hals des Polizeianwärters Kluuge, aber bevor es ihm auch nur gelang, eine Einzige davon loszuwerden, hörte er, wie sie den Hörer auflegte.
Verdammt, dachte er. Verdammt, verdammt, verdammt.
Anschließend überlegte er fünfzehn Sekunden, dann wählte er die Nummer des Grimm’s Hotels. Zwölfmal ertönte das Freizeichen, bevor jemand in der Rezeption abhob, und das Einzige, was er erfuhr, war, dass Herr Van Veeteren vor ein paar Stunden fortgegangen war, ohne zu hinterlassen, wohin. Oder wann er zurück sein wollte.
Kluuge legte den Hörer auf. Starrte durch das offene Fenster. Das Abenddunkel schwebte leicht und sommerwarm dort draußen. Die Grashüpfer zirpten. Auf dem Nachttisch zeigte die Digitaluhr 22.20 Uhr.
Was, zum Teufel, soll ich tun? dachte er. Und irgendwo tief in seinem Inneren hörte er eine leise Stimme, die ihm zuflüsterte, er solle einfach zurück aufs Sofa gehen. Zu Deborah und ihren warmen Patschefüßchen zurückkehren. Das Einfachste wäre natürlich, alles ganz schlicht und einfach zu vergessen und so zu tun, als hätte niemand angerufen ... als hätte er nie etwas von einem toten Mädchen, irgendeinem Pfad oder Findling gehört – aber die Scham darüber, dass ein derartiger Gedanke ihm überhaupt gekommen war, gewann schnell die Oberhand. Wurde groß und rot.
Niemals, dachte er. Niemals im Leben. Ich muss jetzt die volle Verantwortung übernehmen.
Er dachte noch ein paar Minuten nach, dann rief er noch einmal im Grimm’s an und hinterließ eine Nachricht für den Hauptkommissar:
Heiße Spur im Waldingenfall. Bin rausgefahren. Kluuge.
Fünf Minuten später hatte er seiner Frau bereits einen Abschiedskuss gegeben und war in die Nacht hinausgefahren.
Um keinen unnötigen Verdacht zu wecken, hatte er das Auto bereits ein gutes Stück vor dem Ferienlager abgestellt. Er löschte das Licht und trat hinaus auf den Kiesweg. Ein großer Mond war über den See herangesegelt gekommen und machte die Dunkelheit licht. Langsam lief er den schmalen Weg entlang, äußerst vorsichtig und ganz am Rand, wo das Geräusch seiner Schritte von Gras und Erde gedämpft wurde.
Als er am Ferienlager vorbei kam, war es fünf Minuten nach elf, und bis auf zwei Fenster waren alle dunkel. Aber er sah keinen einzigen Menschen und hörte nichts, was darauf hingedeutet hätte, dass jemand im Freien unterwegs war. Also schritt er zügig die leichte Steigung auf der anderen Seite des Grundstücks hinauf. Er zählte seine Schritte, und nach schätzungsweise achtzig Metern knipste er seine Taschenlampe an und begann nach der Abzweigung zu suchen.
Er fand sie problemlos. Als er in sie einbog, schaltete er die Lampe aus. Blieb ein paar Sekunden lang regungslos in der Dunkelheit stehen und lauschte von neuem, aber das Einzige, was zu hören war, war das leise Säuseln der Baumkronen, das eindringliche Zirpen der Grillen sowie vereinzelte liebeskranke Unken unten vom See. Entschlossen machte er die Lampe wieder an und folgte dem Pfad.
Die Angst traf ihn in dem Moment, als er den Lichtkegel auf den großen Steinblock richtete. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die verrückte Frau am Telefon vielleicht gar nicht so verrückt war, wie er annahm, und dass es gleich so weit sein könnte. . . dass es vielleicht nur noch eine Frage von Sekunden war,
bis er vor seiner ersten Leiche stand. Er spürte, wie sein Mund bei dem Gedanken an diese Eventualität auf einen Schlag austrocknete und der Puls an seinen Schläfen plötzlich so laut pochte, dass er sein eigenes Blut hören konnte.
Er hob die Taschenlampe und ließ das Licht über die Bäume gleiten.
Es gab nicht viel Grund zum Zweifeln. Eigentlich gar keinen, genau genommen. Als er seine Lampe zu den Baumkronen hob, sah er deutlich, dass es sich um eine Espe handelte, eine riesige Espe, die nur wenige Meter hinter dem Findling wuchs und deren flüsternde Krone dort oben in der Nacht hoch über ihm wie ein Vorbote der bösen Tat, der Verbrechen des Finsteren und Gott weiß was schwebte. Ein
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