Der Kommissar und das Schweigen - Roman
Selbstverständnis hingenommen wurde. Warum also nicht schon auf dieser Seite des Scheidewegs anfangen, sich daran zu gewöhnen, wenn man doch sowieso zu den Auserwählten gehörte? Kinder wie Erwachsene.
Ja, warum eigentlich nicht?
Aber fleischliche Lust? O nein. Erotik und Ausgelassenheit und unkontrolliertes Durcheinanderbumsen (ein Begriff des Hauptkommissars, nicht ausgesprochen)? O nein, keinen Millimeter weit. Diese Sache wurde entschieden verneint, und das so prompt und wütend lispelnd, dass er umgehend begriff, dass er auf diesem Weg nicht weiterkommen würde. Es stand
hier also doch nicht alles so tadellos zum Besten, wie es behauptet wurde.
Und was den Propheten und seine Lagerkonkubinen betraf, so hatten weder Alexander Fitze noch Marlene Kochel dazu einen Kommentar abzugeben. Die Frage schien ihrer Ansicht nach weit über das Fassungsvermögen eines Kriminalkommissars zu gehen; eine Vergeistigung von so einer Potenz, dass einem schwindelte. Es schwindelte einem, und man hielt die Klappe. Um es prosaisch auszudrücken.
Also: insgesamt gesehen fühlte Van Veeteren sich nicht sehr viel schlauer, als er schließlich nach dem letzten Gespräch wieder ins befreiende Menschengewimmel tauchen durfte. Aber auch nicht sehr viel dümmer, und was lag da näher, als den ganzen Nachmittag einfach in Klammern zu setzen und ihn zu den Akten zu legen. Eine unter vielen.
Vor allem, da auch hier keine Hilfe in der Frage nach Ewa Siguera zu finden gewesen war.
Nun ja, dachte der Hauptkommissar mit klarsichtiger Schärfe. So ist man also mit einer gewissen Würde wieder um ein paar Stunden gealtert.
Dann sah er jedoch, dass es schon fast sechs war und nicht mehr viel Zeit übrig blieb, wenn er den Signalen seines Körpers nach einem guten Essen folgen wollte.
Das Treffen mit Uri Zander war auf halb acht Uhr festgesetzt, und soweit er es verstanden hatte, befand sich die Adresse irgendwo in den Vororten.
Essenfassen, also. Und kein großes Zögern über der Speisekarte.
Er brauchte auch wirklich nicht mehr als fünf Minuten, sowohl sich hinzusetzen als auch ein großes, anständiges Fleischstück in einem der Restaurants gegenüber dem Bahnhof zu bestellen.
Genug von Äther und Entrücktsein, dachte er und zog einen Zahnstocher hervor, während er wartete. Mein Bedarf an durchgeistigten Wesen ist für die nächsten zwei Jahre jedenfalls gedeckt.
Seinen guten Vorsätzen zum Trotz gestaltete sich sein zweiter Abend in Stamberg etwas anders als gedacht.
Das etwas zähe Steak verbündete sich hinterlistig mit dem dunklen Wein und seiner eigenen Müdigkeit, und statt sich in unbekannte Vororte zu begeben, rief er Herrn Zander vom Telefon im Entree an und verschob das Gespräch auf den folgenden Tag. Blieb dann noch eine Stunde mit einem Käseteller und ein paar schrillen Abendzeitungen sitzen, bevor er sich in der blauen Dämmerung auf den Rückweg zum Hotel machte.
Zwei Bier, die Zehn-Uhr-Nachrichten im Fernsehen (an diesem Abend waren die Geschehnisse in Sorbinowo auf eineinhalb Minuten zusammengeschrumpft) sowie vier Kapitel aus Klimkes Betrachtungen begleiteten ihn bis nach Mitternacht, und dann schlief er mit einem vagen, aber vertrauten schlechten Gewissen ein, ohne sich die Zähne geputzt zu haben.
Ein Zeichen von Verfall, daran bestand kein Zweifel, und den ganzen Tag hatte er kaum einen Gedanken an Ulrike Fremdli oder Krantzes Antiquariat verschwendet. Sobald sich die Träume über ihn hermachten, waren es jedoch diese beiden Größen, die um Aufmerksamkeit baten. Und mit einem Rest von Klarsicht dachte er, dass es vielleicht genau das war, worum es eigentlich ging.
Träume.
29
Reinhart leerte sein Glas mit Zitronenwasser und winkte dem Kellner, ein neues zu bringen.
Nachdem er zehn Stunden mehr oder weniger kontinuierlicher Information ausgesetzt gewesen war (unterbrochen von ein paar Stunden Nachtschlaf sowie vereinzelten Toilettenbesuchen), hatten er und Jung sich in einen abgelegenen und einigermaßen kühlen Winkel des Speisesaals im Hotel Grimm’s zurückgezogen. Es war elf Uhr vormittags, und bis jetzt hielten sich die Mittagsgäste noch fern. Ein paar Journalisten vom
Fernsehen saßen zwar an einem Fenstertisch und tranken ihr Morgenbier, aber es war offensichtlich, dass sie noch nicht so den rechten Biss hatten.
»Ja, ja«, sagte Reinhart. »Und was hältst du davon?«
»Keine besonders schöne Geschichte«, sagte Jung.
»Nicht die Bohne«, stimmte Reinhart zu. »Nicht einmal, wenn wir
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