Der Kommissar und das Schweigen - Roman
Kinder, die einem Inzest ausgesetzt wurden, ohne dass der Täter seine Strafe erhielt.
In der anderen alle, die eine Strafe bekommen haben, obwohl sie unschuldig waren.
Denn natürlich hatte es Hexenprozesse gegeben. Überall.
Das war zwar keine neue Problematik, aber diese Paradoxie, die sowohl in ihm selbst als auch in diesem Fall zu herrschen schien, erschien ihm mit jeder Stunde, die verging, umso abstoßender.
Mit jeder Stunde und jedem neuen sinnlosen Verhör.
Wenn man doch nur ein Schatten wäre, dachte er und schaute sich die Wände an.
Oder man unter einer Platane in Spili säße.
Am Nachmittag sprach er mit zwei weiteren Erleuchteten. Einem Mann und einer Frau, nacheinander. Beide waren um die fünfunddreißig, allein stehend und gehörten seit vier beziehungsweise sechs Jahren zu der Sekte. Der Mann – ein gewisser Alexander Fitze – sah aus, als hätte er bis weit über zwanzig noch in seiner Kindheit verbracht. Er redete mit einer ausgesprochenen Vorsicht, als wären die Buchstaben aus Porzellan, konnte aber trotzdem forciert und nervös auftreten. Er erinnerte
den Hauptkommissar an seinen alten Sprachlehrer, den er in seiner frühen Jugend genossen hatte und der sich ungefähr in der gleichen Art und Weise benommen hatte, zumindest in den Monaten, bevor er endgültig zusammenbrach und sich auf dem Dachboden erhängte.
Die Frau hieß Marlene Kochel und hatte eine deutlich phlegmatische Ausstrahlung – mit seehundartigem Körperbau und lispelnder, feuchter Aussprache –, aber was die Zeugenaussagen selbst betraf, die sich anzuhören der Hauptkommissar während dieser immer heißer werdenden Nachmittagsstunden gezwungen war, so zeigte sich dennoch eine auffallende Übereinstimmung.
Die gleiche, im Großen und Ganzen klinische Unfähigkeit, über die Lehren und die Botschaft des Reinen Lebens Rechenschaft abzulegen.
Die gleichen verlogenen Phrasen über das Licht, die Reinheit und das Erhabene Leben.
Die gleichen devoten Angaben über Oscar Jellinek, über seine göttlichen Gaben und seine herrliche Heiligkeit.
Der gleiche selige Sermon. Immer wieder ertappte Van Veeteren sich dabei, wie er an etwas anderes dachte, während sich die Tiraden stapelten und sich selbst in den Schwanz bissen. Manchmal saß er auch einfach nur da und beobachtete seine Interviewopfer von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus, als es der Situation eigentlich angemessen gewesen wäre. Oder erwartet werden konnte. Ein unkonzentrierter und ermüdeter Zuhörer, der sich in erster Linie damit beschäftigte, sich darüber zu wundern, was für ein sonderbares Geschöpf ihm eigentlich auf dem Stuhl gegenübersaß und plapperte (oder lispelte), statt wirklich zuzuhören und sich ein Bild von dem zu machen, was da gesagt wurde (und wie weit es mit dessen Glaubwürdigkeit überhaupt her war). Diese Geschöpfe, die ihre sinnlosen Litaneien herunterleierten, die nicht die geringste Verankerung in der Wirklichkeit oder irgendwelchen logischen Strukturen aufweisen konnten. Worte, Worte, Worte. In einer Sprache, die er nicht verstand.
Wie eine fremde Art fast. Etwas im Grunde Unbegreifliches. Obwohl er ebenso gut selbst das eingesperrte Tier sein mochte. Das Beobachtungsobjekt. Einsam und ausgeliefert und durch die Gitterstäbe auf eine ganze Welt von ... ja, genau, von Unbegreiflichkeiten spähend. Folie à deux, dachte er. Es gibt keine objektive Wirklichkeit.
»Was halten Sie von dem Theodizeeproblem?«, fragte er einmal.
»Wie hieß der?«, fragte Herr Fitze nervös lachend zurück.
Was die eher handgreiflichen Fragen betraf – die Nacktheit, die Teufelsaustreibung, den Konfirmationsunterricht und ähnliches – so gelang es, im Gespräch ein wenig den Nebel zu lichten, aber bei weitem nicht vollkommen. Natürlich gab es Zusammenkünfte in nacktem Zustand. Seinem Gott in dem gleichen freien und ungezwungenen Zustand zu begegnen, in dem man auf die Welt gekommen war, das war offenbar einer von Jellineks Lieblingsgedanken. Und was das Auspeitschen von Sünden oder des Teufels selbst betraf, so war das natürlich sehr viel einfacher, wenn der betreffende Sünder so wenig Kleidung wie möglich trug. Das drang einfach besser durch, das musste doch wohl selbst ein verweltlichter Kriminalkommissar verstehen?
Stellte Marlene Kochel mit einem listigen Lächeln fest.
Dass sowohl die Engel wie Gott Vater selbst nackt über die himmlischen Wiesen zu wandern pflegen, war auch eine Tatsache, die mit dogmatischem
Weitere Kostenlose Bücher