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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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auf und ab.
Hin und wieder blieb er stehen, um an einer Blüte zu schnuppern
oder den Apfel an seiner Brust zu reiben.
    Und auf einmal waren Urilla und Lilit im Fahrstuhlschacht. Die
Wunderbare Stiefmutter und die Wahnsinnige Stieftochter stiegen zu
uns nach oben, und ich betete, dies möge das Ende der Geschichte
sein. Lilit sah den Baum. Unter den Blüten stand ihr Gott und
winkte sie zu sich. Im einen Moment rannte sie durch das
Gewächshaus, im nächsten stand sie vor ihm, und gleich
darauf warf sie sich in die Asche.
    »Goth, mein Herr und Gebieter«, winselte sie. »Ich
bin so verworfen.«
    Jonnie wich bis zum Stamm zurück. Sein linker Arm kam
blitzartig aus seinem Gewand hervor, wie ein Ast des Geernteten
Sturms aus der Brust von Simon Kusk. In der Hand hielt er die erste
Frucht der ersten Ernte des Schlaflehrers. Mit Daumen und
Zeigefinger hielt er den Stengel fest. Der goldene Traum schaukelte
kurz und lag dann still.
    »Iß das!« befahl er, wobei er die Silben abgehackt
aussprach.
    Lilit nahm den Apfel und drückte ihn an ihren Mund. Sie
zögerte sichtlich; die Sekunden dehnten sich. »Warum?«
fragte sie.
    Ich hatte Angst, daß Lilit ihn an der Stimme als
Betrüger erkennen würde, wenn er noch viel mehr sagte.
    »Er wird dich lehren.« Nur vier Worte. Gut für
dich, Jonnie.
    Lilit lutschte an dem Traum. Ihre Zähne drangen ein. Saft
tropfte von ihren Lippen. Obwohl sie von den Schoko-Gummibomben
aufgedunsen war, sah ihr Körper zerbrechlich aus. Ich sah in ihr
keine Frau oder auch nur eine Heranwachsende, sondern vielmehr ein
verlorenes kleines Mädchen – ohne Freunde, voller Angst und
weit weg von zu Hause.
    Und dann aß Lilit vor meinen Augen von dem Baum.

 
21

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Ausklang:
Amarant

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    Ich will Sie nicht mit einer detaillierten Wiedergabe der
Anhörungen zum Thema Mord durch Kunst langweilen, die vor Giles
Torquists Unterausschuß des Pangalaktischen Senats stattfanden.
Die ganze Sache war ziemlich öde. Wenn Sie meine Zeugenaussage
nicht im Holo-TV gesehen haben, werden Sie in den Elektrozinen davon
gelesen haben.
    Die Säuberer der Unterhaltungsindustrie durch Prinzipienfeste
Erneuerung und Restaurierung von Ethik und Göttlicher Ordnung
hatten nur auf einen solchen unverhofften Glücksfall gewartet.
Sie hatten geradezu darauf gelauert. Noch bevor ich fertig ausgesagt
hatte, waren ihre Legionen auf das Zehnfache angeschwollen, und ihre
Kisten waren so schwer, daß man sie gar nicht mehr heben
konnte. Als SUPEREGOs Lieblingssenatorin, diese Lucretia Traft, einen
Gesetzentwurf zur Schließung der Psychosalons ankündigte,
bezweifelte niemand, daß er mit Hilfe der entsprechenden Lobby
bald verabschiedet werden würde.
    Durch und durch böse – so hatte Clee Selig Simon Kusks
Ambitionen genannt. Ich würde nicht ganz so weit gehen.
Vielleicht hätte Goths Kirche viele Angehörige meiner Rasse
glücklich gemacht. Man darf den menschlichen Hunger nach
Selbsttäuschung, unser angeborenes Bedürfnis, uns von der
Offenbarung die Last des Denkens abnehmen zu lassen, nicht
unterschätzen.
    Deshalb sollten wir Goths Kirche lieber nur als
gemäßigt böse bezeichnen.
    Das gemäßigte Böse bringt sonderbare
Bündnisse zustande. In früheren Tagen, damals vor der
Hamadryade, hatte ich SUPEREGO und all jene, die Zensur mit dem
Schutz der Öffentlichkeit verwechseln, ständig angegriffen.
Aber jedesmal, wenn mich ein Senator bei den Torquist-Anhörungen
fragte, wie ich zu dem Traft-Antrag stünde, mit dem sich ein neu
einberufener Schwesterunterausschuß gerade befaßte,
gingen mir Bilder von Kusks Konvertiten durch den Kopf – Lilit,
Creegmoor, Baptizer Brown, die Lotosschlucker –, und ich gab
meiner Hoffnung Ausdruck, daß das Gesetz durchkommen
würde. SUPEREGO mochte die falschen Gründe gehabt haben,
aber in der letzten ironischen Analyse taten sie das Richtige.
    Der Lotosfaktor war einfach zu simpel; man kam zu leicht an ihn
heran. Ein paar Modifikationen an einer Elektromelone, ein paar
tausend Furniere, um eine Phrensamenschule zu mieten, und jeder
Monomane konnte sich zu einem Gott aufschwingen. Das sehen selbst
meine Gegner ein, die Besitzer der Salons und andere, die durch meine
Aussage arbeitslos gemacht wurden.
    Ich bin kein Primitivist. Ich erklärte den Senatoren immer
wieder, daß ich technische Erfindungsgabe wunderbar,
erstaunlich, aufregend, unentbehrlich, ästhetisch, erotisch und
amüsant finde. Aber wenn sich eine Maschine gegen einen wendet,
wenn sie einen dazu bringt,

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