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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Klumpen:
meine hypothetischen Ferien mit Lilit und Urillas Vorstoß in
nicht-narrative Idiome.
    Als Urilla neben mich trat, legte sie mir nur eine Hand auf die
Schulter, aber mir wurde dadurch eine sexuelle Befriedigung
höchsten Grades zuteil, so groß war ihre Macht, meine
erogenen Zonen umzustrukturieren. »Das Gewächshaus ist zu
voll«, sagte sie. »Die Nachwelt wird uns vergeben, wenn wir
die hier nicht zu Früchten reifen lassen.«
    Sie zog ein kleines Messer aus ihrem Gewand und steckte es in die
Samen. Saft spritzte heraus, feuchtes Gewebe sickerte zum Rand der
Schale, und dann war es vorbei – zwei
Schlingbaumabtreibungen.
     
    Am nächsten Nachmittag ging ich wieder ins Studio A und fuhr
mit meiner Ausbildung fort.
    In der zweiten Lektion besuchte ich wieder den
Vergnügungspark, diesmal ohne Lilit, und garottierte mich mit
dem Messingring.
    In der dritten Lektion wurde ich eine Hure, die im terranischen
neunzehnten Jahrhundert an Jack the Ripper geriet.
    In Lektion Nummer vier sprang ich in eine Schlangengrube.
    Lektion fünf. Ein Nest voller Spinnen, jede so groß wie
meine Katze.
    Lektion sechs. Ein Folterkeller der Inquisition, in dem
Häretiker lernten, daß nichts so schmerzhaft ist wie
Feuer.
    Urilla, die kluge Urilla, hatte recht gehabt. »Deine wahren
Gründe werden woanders liegen«, hatte sie gesagt, und als
mir dämmerte, daß ich mich in der Tat entschieden hatte,
den Kampf gegen den Traum aufzunehmen, begriff ich, was sie meinte.
Ja, ich hatte das Gefühl, daß ich als auf das Unheimliche
spezialisierter Kritiker eine gute Chance hatte, den Sieg
davonzutragen. Ja, ich glaubte, daß meine sechs
Übungssamen meine Seele gestärkt hatten. Aber letzten Endes
würde ich den Apfel essen, weil ich herausfinden mußte,
was drinsteckte – in dem Traum und in mir. Ich würde den
Apfel essen, weil das Unbekannte ebensosehr eine Versuchung wie eine
Bedrohung ist, ein Gegenstand der Sehnsucht wie der Furcht.
    Ich würde den Apfel essen, weil ich es so wollte.

 
3

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Figur und
Hintergrund

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    Selig beschloß, die Lotoskapsel in seinem Privatlabor zu
testen, einem Konglomerat eingeweckter Gehirne, antiker Computer und
riesiger Wandgemälde von Neuronen, die ihre Dendriten in der
Hoffnung auf Kommunikation ausstreckten. An diesem Ort hatte Selig
vor fünfzig Jahren dem spöttischen Grinsen seiner Kollegen
aus der Mikrobiologie getrotzt und die einzige Kunstform
hervorgebracht, die je aus der Gentechnologie entstanden war. Eines
Tages würde der ganze Raum mit Fixfolie besprüht und in ein
Museum verfrachtet werden, wo jeder Staubfleck zu einem
unvergänglichen historischen Dokument gerinnen würde.
    Spiralförmig um den Seziertisch gewickelte Lederriemen
hielten meinen Kopf und meinen Körper fest, und ein paar
Sekunden lang begriff ich, was für Schrecknisse ein an Armen und
Beinen Gelähmter ertragen mußte. Drähte klammerten
sich wie Ranken an meine nackte Brust; sie führten zu einem
Gerät, dessen schrilles Piepen mir versicherte, daß mein
Herz noch schlug.
    »Ich möchte, daß Sie etwas unterschreiben«,
sagte Selig. Er saß hinter seinem Schreibtisch und blinzelte
mich über eine kortikale Halbkugel hinweg an, die wie ein
Zierfisch in Formaldehyd schwamm. »Eine Verzichterklärung.
Im Kleingedruckten steht, grob formuliert, daß weder ich noch
die Traumabteilung der Universität dafür verantwortlich
sind, was der Apfel Ihnen antun könnte. Und sie enthält
natürlich die Garantie, daß die zehntausend Furniere nach
dem Traum an Sie oder« – sein Ton wurde verlegen –
»an Ihre Erben ausgezahlt werden.«
    Eine Schwester kam wie eine Platzanweiserin aus dem goldenen
Zeitalter der Psychosalons mit einem Tablett, auf dem die Frucht lag,
auf mich zu. In der anderen Hand hielt sie einen Stift und ein Blatt
Papier. Ich unterschrieb das Papier, ohne es zu lesen. Ich konnte
meine Erben Beifall klatschen hören.
    Das Gesicht der Schwester war alt und hatte etwas von einem
Totenschädel – der lippenlose Mund machte ihr breites
Lächeln zu einer Dauergrimasse. Sie steckte mir den Traum in den
Mund und begann mir den Puls zu fühlen. Mein Kiefer war das
einzige Gelenk, das ich noch bewegen konnte, und ich kaute
mühelos, wenn nicht gar begierig.
    »Es ist nur ein Zephapfel«, krächzte ich leise, der
Stammesgesang des Kapselschluckers, der merkt, wie seine
ästhetische Distanz bedrohlich schrumpft. »Es ist nur ein
Zephapfel, nur ein Zephapfel.«
    »Verlieren Sie Ihr Sehvermögen?«

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