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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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irgendwelchen Provinzplaneten teil. Aber natürlich war Talas
mit ihrer Schauspielerkarriere auch nicht gerade ein Heimchen am
Herd, und ich konnte dem Richter seine drakonische Entscheidung nicht
vergeben, meine Besuche bei Lilit auf die von ihrer Mutter
ausgewählten Zeitpunkte zu beschränken. »Über
solche Dinge sollten die Mütter die Kontrolle haben«, hatte
der Richter mir direkt ins Gesicht gesagt. »In
Jäger-Sammler-Gesellschaften haben stets die Frauen bestimmt,
wann die Männer mit den Kindern Zusammensein durften.« Und
ich hatte darauf erwidert, ebenfalls direkt in sein Gesicht:
»Warst du dabei? Du siehst jedenfalls ganz so aus, du
schielendes Mastodon.«
    Da Lilits Freundin Risha unsere Spritztouren in den
Vergnügungspark meistens mitgemacht hatte, beschloß ich,
sie auch mit einzubauen. Eine angenehme Aufgabe – die kleine
Risha war noch süßer als Lilit.
    Wir kamen alle drei zu einem wortlosen Einverständnis und
marschierten Arm in Arm zum Karussell. Es gab keine Warteschlange;
das sind die Vorteile der Illusion. Wir sprangen auf und sahen uns
die Möglichkeiten an. Lilit entschied sich bald für einen
Drachen. Risha suchte sich ein großes Schwein aus, das so
aussah, als ob es durchaus imstande wäre, jeden abzuwerfen, der
einen Schweinewitz zu reißen versuchte. Ich stieg auf ein
Einhorn mit einem Lakritzfell.
    Unsere Füße schoben sich in die jeweiligen
Steigbügel, und ich brachte die Welt zum Rotieren.
    Auf den Holovisionsschirmen rasten helle, getüpfelte,
verschwommene Flecken vorbei. Mein Schwindelgefühl sagte mir,
daß ich für einen Amateur ganz gut wob.
    »Denk daran, Quinny«, mischte sich Urilla ein, »du
bist in der Ausbildung, um einen Apostel von Simon Kusk zu
bekämpfen. Stell dir einen unerträglichen Höhepunkt
vor. Mach irgendwas Schreckliches mit euch.«
    Und die Situation bot in der Tat eine ganze Reihe von
Möglichkeiten, sie ›schrecklich‹ ausgehen zu
lassen.
    Ich hätte zum Beispiel die Geschwindigkeit des Karussells
steigern können, bis mir die Reibung die Haut abgefetzt
hätte. Ich hätte den Messingring zu einer Schlinge werden
lassen und mich damit auf der Stelle lynchen können. Ich
hätte mein Einhorn in einen antaresischen Plasmidleoparden
verwandeln können.
    Diese Halbgedanken – diese Ideen, die ich nicht zu sichtbaren
Phantasien zu formen wagte – entnervten und bedrückten
mich. Als ich den Mund aufmachte, schien meine Stimme aus dem Raum
nebenan zu kommen.
    »Nein«, sagte ich. »Die Unterrichtsstunde ist
um.«
    »Wie du willst.«
    Ich fing an, den Traum zu demontieren. Auf den Bildschirmen
hörten die Tiere auf, sich zu drehen. Lilit und ihre Freundin
stiegen ab und hüpften aus dem Bild. Die Achterbahn fiel in sich
zusammen. Das Riesenrad rollte davon. Das Karussell begann sich in
Luft aufzulösen, bis nur noch mein schwarzes Einhorn in einer
weißen Dunstglocke übrig war.
    Urilla kam zu mir und tupfte mir die Stirn mit ihren Taschentuch
ab. »Du machst erfreuliche Fortschritte«, sagte sie.
»Insgesamt feste, klare Bilder. Scharfe Konturen. Ich glaube,
Kusks Schüler hat jemand gefunden, der ihm ebenbürtig
ist.«
    Sie zog die Melone von meinem erhitzten Gehirn.
    Wir schlenderten aus dem Studio, stiegen in einen Aufzug und
sanken in zehn Sekunden ebenso viele Dekameter tief unter den
Erdboden.
    Als wir ausstiegen, befanden wir uns in einer Phrensamenschule,
einer ausgedehnten Grotte, in der es von
Neuroaktivitätsverstärkern, Guaninbottichen,
Adeninglaskolben, Zytosinfläschchen, Thyminfässern,
Reaktionskammern, hochpatentierten Computern und herumwieselnden
Technikern wimmelte. Ich wußte, daß die Melone meinen
jungfräulichen Versuch im Traumweben hierher übertragen
hatte. Im Verlauf einer solchen Übertragung steuerten die
Maschinen die Einspeisung von etlichen hundert künstlich
synthetisierten Neurotransmittergenen in Plasmide, die von einer
gewöhnlichen Pflanzenspore stammten; wenn sie wieder in die
Spore eingesetzt wurden, vervielfältigten sich die Plasmide wie
wild und verwandelten sie in einen Phrensamen.
    Urilla führte uns zu einer Nische mit der Aufschrift
PRODUKTION: STUDIO A, und ich ertappte mich dabei, wie ich eine
Petrischale anstarrte. Ihr Rand bestand aus einer Masse von
Gummischläuchen, die wie die Arme eines hirngeschädigten
Tintenfischs in alle Richtungen liefen und schließlich jeweils
in einer Reaktionskammer verschwanden. Im Innern der Schale wurden
unsere Träume ausgebrütet, zwei schwabbelige graue

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