Der Kontinent der Lügen
Schwester Tiamet, die Kettenhemden anhatten und behaupteten,
sie würden gemeinsam an einem Buch mit dem Titel Inzest im
Mutterleib arbeiten. Und da war schließlich Nullissa, eine
hausbackene Frau mittleren Alters mit einem Glasauge. Das Auge war
durchsichtig und mit Wasser gefüllt. Ein lebendiger Guppy
schwamm darin herum.
Der Wirbelbus landete auf einem offenen Strand. Der Nachtwind
peitschte wildes Gras und pfiff um Treibholz herum. Zwei große
Mondsicheln am finsternisgetränkten Himmel trieben die Flut
gegen das Land. Der Urulu-Ozean tobte. Wellen explodierten an
zerklüfteten Felsen. Möwen schrien. Der Strand war ein
verlassener, kalter Ort. Wir bewegten uns im Licht von Baptizers
Leuchtkugel voran, die mit einem Band an seinem Handgelenk befestigt
war und wie ein Ballon vor uns herschwebte. Unsere Stiefel quatschten
über den Sand.
Und plötzlich lag er vor uns, der gewaltige, mesozoische
Kadaver des Grorgs, der gegen die Dunkelheit ankämpfte. Er war
so groß wie eine Raumjacht. Der Kopf, der Hals und die
Vorderflossen ragten aus dem Wasser; der Rest war in der Brandung
begraben.
Es gibt nichts so Totes wie einen toten Grorg.
Wir kletterten in sein Maul und stiegen über zwei Palisaden
aus Zähnen hinweg. Guig fand in der weichen Zunge Halt und
verteilte Nasenstöpsel, als wir vorbeikamen. Keinen Moment zu
früh: Als wir der Leuchtkugel über den sumpfigen Boden der
Speiseröhre des Tieres folgten, wurden wir von Gerüchen
empfangen, die die Nase einer Kakerlake beleidigt hätten.
Der Grorg ist ein Geschöpf, das unterschiedslos alles
verschlingt. Das war nicht zu übersehen, als wir die erste der
sechs Kammern betraten, aus denen sein Verdauungsorgan bestand. In
einer Ecke lag ein teilweise aufgelöster Zwerghai. In einer
anderen ein zerfetztes Kanu. Dahinter die Kühlerhaube eines
Schwebewagens, ein Stück von einem hölzernen Dock, ein
Außenbordmotor des veralteten Verbrennungstyps, eine Kolonie
kränklicher Tintenfische und eine Hummerfalle mit einem Hummer
drin. Der erste Magen war etwa so groß wie Clee Seligs
Bibliothek. Die Wände waren feucht, rosa und runzlig. Auf dem
Boden stand eine klare Flüssigkeit, die zischend um unsere
Stiefel spülte.
Wir nahmen auf der Hummerfalle, den Ruderbänken des Kanus und
der Kühlerhaube des Schwebewagens Platz. Uns war alles recht.
Von unseren Nasenstöpseln ausgesperrt, versuchten die
Gerüche auf andere Weise einzudringen; sie klopften an unsere
Münder, unsere Ohren und Augen. Die Gerüche hafteten an
jedem Luftmolekül in diesem Raum.
»Du hast dich selbst ü… ü… ü…
übertroffen, Ba… ba… ba… ptizer.« Guig
stotterte vor Aufregung.
»Wirklich ganz außergewöhnlich«, fiel Sprick
ein. »Ich ziehe den Hut vor dir«, ließ er den
Zwerghai sagen.
Baptizer gluckste.
»Erklär mir noch mal, was wir hier wollen«, bat
mich Urilla.
Seit ich Nullissa zum erstenmal zu Gesicht bekommen hatte,
schleppte sie einen Beutel aus Seide mit sich herum. Jetzt machte sie
ihn auf und holte eine Transplastikflasche heraus, die mit einer
roten Flüssigkeit gefüllt war. Ich wußte, daß
dies der vinum sanguinis der Alptrinker sein mußte, Blut
und Zephapfelsaft, die in süchtig machenden Anteilen gemischt
waren. Nullissa schraubte den Verschluß ab, nahm einen
großen Schluck, gab die Flasche dann an die kleine Vultzie
weiter und ermahnte sie, nicht mehr als einen Schluck zu trinken. So
machte der Blutsaft im ersten Magen die Runde. Wir sahen wie
heruntergekommene Vampire aus.
Als die Flasche bei mir ankam, fragte ich, ob sie die Frucht der
Hamadryade enthielt. Ich hatte nämlich nicht vor, mich erneut
den Launen des lauernden Lügners auszusetzen.
»Nein«, antwortete Baptizer. »Das ist nur ein
Aperitif. Sein Titel ist Wurm auf der Rasierklinge, wie du
noch sehen wirst. Vor dem Hauptgang wollen wir… auf
Entdeckungsreise gehen. Wenn der lauernde Lügner auch nur
halb so gut ist, wie es heißt, Kritiker, ist nur der sechste
Magen seiner würdig.«
Ich warf Ulissa ein leicht glasiges Lächeln zu, setzte die
Flasche an die Lippen und trank. Blut und Illusion: Bei dieser herben
Kombination kräuselte sich mir immer die Zunge.
Die Party hatte begonnen.
Wurm auf der Rasierklinge entpuppte sich als Geschichte von
einem Gefängnisausbruch, in der man aus seiner feuchtkalten
Zelle entkam, nur um sich auf einer endlosen Ebene aus Metall
wiederzufinden. Man war immer noch ein Gefangener, der Gefangene der
Unendlichkeit. Während der nächsten Stunde rannte
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