Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
mitspielen.«
    Jemand aktivierte das Cyberschwert, und es stieg mit einem tiefen,
insektenartigen Summen in die Luft, schwebte dort wie Macbeths
berühmte Halluzination und schoß dann zu Baptizers
ausgestrecktem Unterarm. Die Klinge spürte Haut, zuckte vor und
brachte ihm einen feinen Schnitt bei. Baptizer zog seinen verletzten
Arm zurück, und das Schwert schwebte weiter, kreiste im Magen
des Grorgs und brachte jeden Alptrinker zum Bluten. Als es bei Urilla
ankam, war ich nicht nur von der Kaltblütigkeit beeindruckt, mit
der sie ihren Arm darbot, sondern auch von der Gelassenheit, mit der
sie sich ihre Verstümmelung ansah. Ich unternahm erst gar nicht
den Versuch, es ihr gleichzutun, sondern ließ die Tortur mit
schrillem Gewinsel über mich ergehen.
    Nun stolperten die Alptrinker der Reihe nach über den von
Knochen bedeckten Boden, beugten sich über den Entsafter und
überließen ihm jeweils dreißig Tropfen Blut. Urilla
und ich leisteten als letzte unseren Beitrag zu dem Gebräu. Eine
absolut seltsame Erfahrung, in der sich Aspekte eines religiösen
Opfergangs und des öffentlichen Urinierens verbanden.
    Während Guig den Entsafter in die Kelche leerte, wobei er sie
bis zum Rand füllte, stahlen Urilla und ich uns davon.
Erschöpft von einer schlaflosen Nacht voller Träume stieg
ich hinter Urilla den Knochenberg hinauf. Schmerzen tobten in
Muskeln, von deren Existenz ich nicht einmal etwas geahnt hatte. Als
wir den Gipfel erreicht hatten, ließ ich mich auf einen Haufen
von Rückenwirbeln niedersinken. Meine Wunde pochte wie ein
außenliegendes Herz. Ich beobachte die Kommunion, die sich
unten entwickelte.
    Baptizer brachte einen Trinkspruch aus.
    »Auf den Wahnsinn«, sagte er.
    »Auf den Wahnsinn«, kam es im Chor von der Bruderschaft
zurück.
    »Auf Dinge, die noch kein Mensch gesehen hat«, sagte
Baptizer und riß sich die Klappe vom Auge.
    »Auf Dinge, die noch kein Mensch gesehen hat«,
wiederholte die Bruderschaft.
    »Auf Klänge, die noch kein Mensch gehört
hat.«
    »Auf Klänge, die noch kein Mensch gehört
hat.«
    Ich rechnete damit, daß Baptizer um ›Gerüche, die
noch kein Mensch gerochen hat‹ bitten würde, aber dann
erkannte ich, daß der Grorg die Feiernden bereits mit diesem
speziellen Produkt versorgt hatte.
    Kelche suchten einander und trafen sich paarweise. Klirr, klirr,
klirr. Blutstropfen quollen aus den Armen der Alptrinker. Die
Leuchtkugel tanzte in den eingravierten Blättern.
    »Nun trinkt, meine Freunde!« rief Baptizer.
»Laßt euch den Nachfolger der Vorka-Kapsel
schmecken!«
    »Der Vorka-Kapsel?« entfuhr es Nullissa daraufhin.
»Verdammt noch mal, Baptizer! Glaubst du, ich bin verrückt?« Bevor sie ihren Kelch wegwarf, drehte sie
ihn um. Vinum sanguinis ergoß sich mit dem heftigen
Blubbern einer chemischen Reaktion in die Verdauungssäfte des
Grorgs.
    Vultzie war die nächste, die einen Rückzieher machte.
Dann Sprick. Guig. Tiamet und Bandar in perfekter Synchronisation.
Sechs Kelche lagen wie Geschwüre im Magengewebe. Nur Baptizer
behielt seinen vollen Becher in der Hand.
    »Feiglinge!« schrie er. »Memmen! Ihr seid keine
Brüder des Abgrunds, keiner von euch! Ihr seid
Hasenfüße! Ich werde euch zeigen, was der echte Sensualist
tut, wenn er am Rand des Abgrunds steht!«
    Baptizer sprang.
    Der vinum strömte durch seine Speiseröhre in den
Magen. Sein Herz schickte ihn ins Gehirn. Traumblind starrte er ins
Nichts.
    Ich ertappte mich dabei, wie ich den täuschend harmlosen
Anfang der Lotoskapsel vor meinem geistigen Auge sah. Der Wind. Die
Wiese. Der Reiter auf dem Ziegenbock. Der Brunnen. Die Hecke.
    Ich spürte den Blick von Urillas diamantenen Augen im Nacken
und drehte mich um.
    »Ich liebe dich«, sagte sie.
    »Ich liebe dich«, erwiderte ich.
    »Hat lange gedauert, bis wir das ausgesprochen
haben.«
    »Ich glaube, wir brauchten die richtige Umgebung«, sagte
ich und gestikulierte zu einem amorphen Protoplasmastrang
hinüber, der wie ein Stalaktit von der Decke des Magens
herabhing und vor sich hintröpfelte. »Wir brauchten den
Mondschein.«
    »Wir brauchten die Geigen«, sagte Urilla. »Und den
Flieder.«
    Wir streckten uns auf den Knochen aus und kuschelten uns
aneinander.
    Die Gepflogenheiten der Alptrinker, die Schrecken der Blutbad-Pastorale, der Gestank des Grorgs – alle
Demütigungen dieser langen Nacht, dieser lächerlichen
›Party‹ lösten sich in dem Augenblick in Luft auf, als
wir erkannten, daß wir wirklich die Spur des Todesbaums
aufgenommen

Weitere Kostenlose Bücher