Der Kontinent der Lügen
hatten, daß die Hamadryade tatsächlich die
Mutter des lauernden Lügners war. Der Beweis war
unanfechtbar. Baptizer erhob sich taumelnd von seinem Beckenknochen
und schrie: »Kein Schlüssel! Kein Schlüssel! Kein
Schlüssel!« – die fleischgewordene Frustration. Seine
Stimme hallte von den harten weißen Wänden wider.
Anscheinend hatte sogar ein Alptrinker jemanden, den er ›am
meisten liebt‹; anscheinend konnte sogar ein Bruder des Abgrunds
eine Person in den Blutbrunnen projizieren. Sich selbst
vielleicht?
Zehn Minuten später kam die Schlußszene – die
Szene, die mein Unterbewußtsein nicht hatte freigeben wollen.
Über den faktischen Inhalt der Szene gewann ich keinerlei neue
Erkenntnisse, denn was sollte ich Baptizers Verhalten – seinen
Qualen, seinem Stöhnen, seinem unvermeidlichen Geschrei
»Mein einziger Gott ist Goth, mein einziger Gott ist Goth!«
– schon entnehmen, außer der bereits feststehenden
Tatsache, daß der Schluß des lauernden Lügners ebenso viel Gänsehaut erzeugte, wie er Geheimnisse barg?
Goth? Goth? Goth? Goth? Ich versuchte mich erneut zu erinnern, und
auch diesmal gelang es mir nicht.
Als Urilla und ich vom Knochenberg herabgestiegen waren, hatte
sich Baptizer wieder aufgerichtet.
Der Traum hatte seine Spuren hinterlassen, wie wir sahen.
In Baptizers Augen stand Trauer. Das Feuer in ihnen war erloschen.
Sein Gorillagesicht war grün. Auf seiner Stirn und seinem Hals
glänzte Schweiß. Er atmete schwer, und seine Worte
mußten sich einen Weg durch seine zugeschnürte Kehle
bahnen.
»Sieht… ganz so aus, als… ob das… der Apfel
ist, den… ihr sucht.«
»Wir haben dich gewarnt«, sagte Urilla.
»Es geht über die Grenzen des Erträglichen hinaus,
nicht wahr?« fragte ich.
»Bei… weitem.« Der Pirat kam allmählich wieder
zu Kräften. »Deine Hamadryade… verletzt mich,
Kritiker. Sie… macht mir zu schaffen. Schon richtig: Ich bin ein
Bruder des Abgrunds, ich bin dem Vorka-Wahnsinn nicht verfallen. Aber
heute abend hat hier eine Erniedrigung stattgefunden, und so
ein Frevel darf nicht ungesühnt bleiben!«
Baptizer zog einen Schädel aus dem Berg und begann Luft aus
den Augenhöhlen zu saugen. »Der Name des Züchters ist
Atropos«, knurrte er. »Ein großer, harter Mistkerl
– sowas wie den hat meine Mutter früher immer als knackiges
Mannsbild bezeichnet.« Den Gedanken, daß Baptizer Brown
eine Mutter hatte, konnte ich nur im Licht der Information
unterbringen, daß sie häufig über knackige
Mannsbilder redete. »Morgen ist der große
Abschlußabend mit Zorcysts Die Auferstehung von Kristin. Träumt ihn, genießt ihn, und dann statten wir dem
Züchter der Hamadryade einen Besuch ab. Ihr werdet nur
zuhören. Ich werde reden. Reden, schreien, ihn
einschüchtern, ihn bedrohen und ihm Angst machen. Und wenn wir
ihn wieder verlassen, wird etwas Neues in meiner Seekiste sein, und
zwar entweder die Koordinaten der Hamadryade oder Atropos’
Kopf!«
Er verpaßte einem verirrten Kelch einen Tritt, drehte sich
zu seinen Leuten um und beschimpfte sie als Schwächlinge.
Nach dem Wurm auf der Rasierklinge, der Blutbad-Pastorale und den anderen Dingen aus Nullissas Tasche
war Die Auferstehung von Kristin von Anfang bis Ende ein
Hochgenuß.
Die Auferstehung von Kristin (A.G. 792). 74
Minuten. Weber: Corbin Zorcyst. Sentimentales Fantasy-Märchen
über eine Gruppe von Fremden, die durch ihre gemeinsamen
Erinnerungen dahinterkommen, daß jeder von ihnen ein
transplantiertes Organ von Kristin besitzt, einem jungen
Mädchen, das in der Blüte seines Lebens bei einem
Schwebewagenunfall ums Leben gekommen war. Während der
transgalaktischen Premiere auf dem Zephapfel-Festival von Ganzir
flossen bei der Auferstehung von Kristin die Tränen in
Strömen. Nicht tiefschürfend, nichts, was man unbedingt
gesehen haben muß, aber so ergreifend, daß man
versucht ist zu sagen: »Ja natürlich, genau darum geht es beim Träumen.«
Während Baptizer und seine Bluttrinkerkumpane beschlossen
hatten, ihre skandalöse Anwesenheit bei dem Festival groß
in Szene zu setzen, indem sie unter ihren eigenen Namen geradewegs
ins Hotel Anshar einzogen, war unser Mr. Atropos da offenbar etwas
vorsichtiger gewesen. »Er ist im Moloch-Haus«, war das
erste, was Baptizer zu Urilla und mir sagte, als wir ihn im Raum
für Spirituelle Nostalgie entdeckt hatten. Das war uns gelungen,
indem wir nach dem Tisch mit der größten Anzahl leerer
Zorn-Jehovas-Gläser Ausschau gehalten
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