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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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man
über die Ebene, während unsichtbare Wachposten hinter einem
her waren, deren Schritte einem in den Ohren dröhnten und deren
Atem einem das Genick streifte. Am Höhepunkt entkam man seinen
Verfolgern, indem man sich in einem Kerker einschloß, der
genauso aussah wie der, aus dem man entflohen war.
    Als wir aufwachten, teilte ich Urilla meine Analyse des Traums
mit. Ich erklärte ihr, daß der Weber von Wurm auf der
Rasierklinge einen ›Gipfel der Kreisbewegung‹ erreicht
hätte, und sie fragte: »Ist das gut oder
schlecht?«
    Wir gingen unverzüglich weiter zum zweiten Magen. Das gleiche
wie eben: halb verdauter Müll, rötliche, pulsierende
Wände, heiße Verdauungssäfte.
    Nullissa holte erneut ein Fläschchen aus ihrem Beutel, und
der rote Nektar wurde herumgereicht. Diesmal hieß der Traum Blutbad-Pastorale. Man wurde in einen Schwebewagen gesetzt und
auf eine Mondscheinfahrt mitgenommen, vorbei an Szenen von einmaliger
Morbidität. Eine weinende Anhalterin, die bis zur Taille im
Boden steckte. Zoom. Ein kopfloses Reh, das hinter einem Schild mit
der Aufschrift VORSICHT KOPFLOSES WILD hervorgeschossen kam. Zoom.
Ein abgetrenntes menschliches Bein, das sich durch Beugen und
Strecken langsam vorwärtsbewegte. Zoom…
    Der dritte Magen, der vierte, der fünfte. Ich weiß
nicht mehr, wie viele Träume wir in den jeweiligen Räumen
hatten oder was in ihnen passierte. Die Schauplätze der
Träume, ihre Geschichten, ihre Requisiten und Figuren begannen
alle zu einer nicht reduzierbaren Suppe aus Verfolgungsjagden,
Dämonen, Geheul, Stürmen, Zähnen, Stürzen,
Wunden, Gelächter, Schlangen, Augen, Kämpfen, Insekten,
Händen, Grüften, Flammen, Skeletten, Schatten, Blut und
mißtönender Hintergrundmusik zu verschmelzen. Eins
weiß ich aber noch: So grotesk diese Träume auch waren,
keiner von ihnen hatte die totale, unerträgliche
Intensität, den Hyperrealismus des lauernden Lügners. Keiner von ihnen war eine Lotoskapsel.
    Der sechste Magen.
    Es war ein Ort der Knochen. Menschenknochen, Tierknochen, so
sauber und steril wie Goldbarren. Die Strahlen der Leuchtkugel
spielten über einen buntscheckigen Haufen von Schädeln,
Rückenwirbeln, Rippen, Schlüsselbeinen,
Schulterblättern, Oberarmknochen, Ellen, Speichen,
Oberschenkelbeinen, Schienbeinen und Wadenbeinen. Kaskaden von
ausgewaschenem Weiß ergossen sich über die Schrägen
und breiteten sich auf dem nassen Boden aus.
    Bandar und Tiamet stöberten in den Ausläufern herum und
zogen zwei Gebilde heraus, die wie menschliche Beckenknochen
aussahen. Wie die Zwillinge sofort demonstrierten, sind Beckenknochen
hervorragende Schemel. Wir übrigen nahmen uns ein Beispiel an
ihrer Findigkeit, so daß unsere gesamte Gruppe bald auf den
Hinterteilen von neun glücklosen Grorgjägern hockte. Wir
stellten unsere Schemel im Kreis auf.
    Stille senkte sich auf das Beinhaus.
    Es war Zeit für das Hauptgericht.
    Nullissa holte die erforderlichen Ingredienzien aus ihrem Beutel.
Ein brandneuer Entsafter, dessen trichterförmige Öffnung
das Licht der Leuchtkugel ebenso funkensprühend zurückwarf
wie sein zylindrisches Gehäuse; ein Satz goldener Kelche, die
mit filigranen Verzierungen und eingravierten Eichenblättern
geschmückt waren; ein glänzendes Cyberschwert, das, wie ich
naiverweise zuerst annahm, dazu benutzt werden würde, die
Lotoskapseln aufzuschneiden, aber dann verrieten mir die rostfarbenen
Flecken an der Klinge seinen wahren Zweck.
    Schließlich natürlich die Früchte selbst, zehn
pinkfarbene Kugeln, die von einem verborgenen Sämling
abgepflückt worden waren.
    Guig griff sich den Entsafter und hielt ihn senkrecht,
während Nullissa alle zehn Träume in die Öffnung
kullern ließ. Jeder geriet mit einem scharfen, quatschenden
Geräusch ins Innenwerk, und als Guig das Gerät zum
Mittelpunkt des Kreises trug, drang das Schwappen von frischem
Apfelsaft nach draußen.
    Baptizer bedachte Urilla mit dem gleichen lüsternen Zwinkern
wie im Raum für Spirituelle Nostalgie. »Sind Sie sicher,
daß Sie nichts trinken wollen? Kann ich Sie nicht in Versuchung
führen?«
    »Wir werden nichts davon trinken. Aber um unsere guten
Absichten zu beweisen, werden wir unser Blut beisteuern.«
    So wie ich meine Fehler hatte, hatte Urilla die ihren. Einer der
größten war ihre unbekümmerte Freigiebigkeit, was das
Blut anderer Leute betraf. Ich warf ihr einen funkelnden Blick zu,
der besagte: »So, werden wir, ja?« Sie antwortete mit
einem, der besagte: »Wir müssen

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