Der Kontinent der Lügen
Sache
durchzuziehen. Geburtstagsparties waren etwas, was ein
tüchtiger, verantwortungsbewußter Vater arrangieren
würde – und ich hatte mich in letzter Zeit nicht unbedingt
wie ein tüchtiger, verantwortungsbewußter Vater
gefühlt. Ungeachtet all meiner Bedenken weigerte ich mich
jedoch, sie zu ihrer Mutter zurückzuschicken. Ich weigerte mich,
die ›Leihfrist‹ zu beenden. Trotz ihrer Beleidigungen,
trotz ihres ständigen Schwankens zwischen liebreizender
Freundlichkeit und sauertöpfischer Verdrossenheit war es Lilits
Gegenwart, die mich in jener Zeit am glücklichsten machte.
Alle an Bord erhielten eine Einladung, und alle außer
Baptizer nahmen sie an. Wir richteten den Cocktailsalon mit Ballons
und Kreppapier her, stapelten die Pakete mit den lustigen
Bändseln in der zentralen Vertiefung, fuhren den Kuchen heraus
und sangen ›Happy Birthday to You‹. Lilit schaffte es
nicht, alle Kerzen auf einmal auszupusten, obwohl ich nicht glaube,
daß sie sich sonderliche Mühe gab. Sie schaffte zehn von
vierzehn und bat ausgerechnet Jonnie, ihr bei den anderen zu
helfen.
Lilit packte ihre Geschenke so vorsichtig aus, als ob sie mit
Sprengsätzen versehen sein könnten. Ihr verkniffenes
Grinsen zeigte die Fröhlichkeit und Dankbarkeit, die in dieser
Situation obligatorisch waren.
Urilla schenkte ihr ein rotes Halstuch aus Seide und ein
Chronamulett – einen dieser mit Technologie vollgepackten
Anhänger, die einem die Zeit, das Datum und die Temperatur
anzeigen und die Zukunft vorhersagen. Praktisch und hübsch. Eine
gute Wahl. Lilits Grinsen lockerte sich etwas.
Jonnie hatte tief in seinen Zephapfelbehälter gegriffen und
den letzten Rest zusammengekratzt. Er kam mit einen Krimitraum mit
dem Titel Vor dem Schnitter sind alle gleich an, den er gar
nicht erst geschluckt hatte, weil er genau wußte, daß er
nichts dazu beitragen würde, sein Verlangen nach dem vinum
sanguinis zu stillen. Mein Geschenk war ein topmoderner
Vokalitapparat, den ich auf Zahrim zusammen mit Aufnahmen etlicher
Sänger erstanden hatte, deren Popularität zu jener Zeit
unvergänglich zu sein schien. Es war keine Überraschung,
daß das seltsamste Geschenk von Iggi kam. Während der
Kuchen aufgeschnitten wurde, verkündete er, daß er ein
Rätsel für Lilit habe. Dieses erwies sich als die
berühmte Scherzfrage, die König Ödipus vor etlichen
Jahrtausenden richtig beantwortet hatte. Was geht morgens auf vier
Beinen, mittags auf zweien und am Abend auf dreien? Lilits
Lösung war im Wortsinn richtig – der berühmte
Sphinxkäfer vom Planeten Rabishu, der auf einem Terrain lebte,
dessen Festigkeit mit dem Lauf der Sonne fluktuierte und dessen
Bewohner folglich gezwungen waren, ihre Mobilität durch
verschiedene Konfigurationen von Gliedmaßen zu wahren. Als
meine Tochter nachdachte und schließlich die klassische
Lösung – Homo sapiens – in ihrer ganzen
metaphorischen Pracht begriff, konnte ich praktisch sehen, wie sich
ihre Neuronen zu einer neuen, vierzehnjährigen Stufe kognitiver
Organisation gruppierten.
Später, als die Gäste fort waren, saßen Lilit und
ich inmitten des fröhlich bunten Abfalls; sie spielte mit ihrem
Vokalitapparat, ich stieß die Ballons umher, und wir plauderten
miteinander. Mich freute und überraschte nicht nur Lilits
Bereitschaft, sich zu unterhalten, sondern auch der eigentliche
Inhalt unseres Gesprächs: die Party selbst, der ulkige Kuchen,
die verschiedenartigen Geschenke. Der Vokalitapparat erfreute sich
besonderer Beliebtheit, und mein Entzücken über ihre
offensichtliche Wertschätzung rief bei Lilit ein entsprechendes
Glücksgefühl hervor, das ich wiederum höchst
befriedigend fand. Unsere gute Laune wuchs durch endlosen
Widerhall.
»Iggi hat mir was über natürliche Auslese
erzählt.« Lilit schien nicht so sehr in der Vertiefung zu
sitzen als vielmehr oben drüber zu flattern, emporgehoben von
ihren Knochen, die leichter waren als Luft. »Er sagt, es gibt
ein Gen für alles, was wir tun. Ein Gen fürs Kämpfen
und eins fürs Reden und eins für Selbstlosigkeit.
Heißt das, daß alle mir diese Sachen geschenkt haben,
weil sie’s tun mußten ?«
»Nein, weil sie’s wollten.«
»Aber wenn es ein Gen für Selbstlosigkeit
gibt…«
Judas am Krückstock, wieso steckte ich plötzlich bis zum
Hals in der berühmten Debatte über biologischen
Determinismus – mit einer Vierzehnjährigen? Ich betete um
ein Wunder – zum Beispiel, daß sich die gesamte
Fakultät der Wendcraft-Universität mit
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