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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Flecken wie ein Flußsystem verzweigten
und verästelten. Über dem Waschbecken war ein Spiegel.
Jemand hatte den Spiegel als Schreibtafel, seine oder ihre
behandschuhte Hand als Stift und Atropos’ Kehle als
Tintenfaß benutzt. Blut tropfte von sechsunddreißig
Buchstaben herab.
    Die Buchstaben bildeten sieben Worte. Die Worte ergaben einen
Satz:
    UND GOTH WIRD EINE MILLION JAHRE HERRSCHEN.



 
6

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Auf der Suche
nach der
Hamadryade

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    Gott sei dank gab es Psychobillard. Oder vielmehr – Ehre, wem
Ehre gebührt – William R. Wesgroot sei dank gab es
Psychobillard. Wäre die Fleischtopf nicht mit Dr.
Wesgroots bemerkenswerter Erfindung ausgestattet gewesen, wären
wir auf unserer langen Reise zum Sabik-Hydrasteroidengürtel
bestimmt genauso wahnsinnig geworden wie die Vorka-Opfer.
    Obwohl das Spiel immerhin soviel Ablenkung bot, daß wir
darauf verzichten konnten, uns selbst zu verstümmeln, uns auf
verabscheuungswürdige sexuelle Praktiken einzulassen, mit den
Wänden zu reden oder die Wände antworten zu hören,
machte uns die Langeweile noch reichlich zu schaffen. Die Langeweile
war immer bei uns, wie eine unerwünschte Verwandte. Sie
verfolgte uns wie das Gespenst in Zorcysts Taktik des
Spuks.
    Jeder von uns bekämpfte sie auf seine eigene,
charakteristische Weise.
    Urilla begann zum Beispiel einen Entwurf für die Bereinigung des Vergangenen zu schreiben, obwohl bald deutlich
wurde, daß ihre Muse sie irgendwo zwischen Zahrims
Ionosphäre und den Gasplaneten verlassen hatte. Wenn ich in
unsere Kabine kam, sah ich häufig Knäuel zerknüllten
Papiers wie die Überbleibsel einer Schneeballschlacht auf dem
Fußboden herumliegen und hörte Urilla sagen: »Es hat
einfach keinen Zweck, Quinny! Dieser Trip ist ungefähr so
inspirierend wie die Blutbad-Pastorale!«
    Iggi und ich rückten der Langeweile im Team zu Leibe. Wir
spielten Schach, bewiesen die Existenz eines höheren Wesens,
widerlegten die Existenz eines höheren Wesens, erfanden eine
Computersprache, die ausschließlich aus Obszönitäten
bestand, und versuchten so unaufhörlich wie vergeblich, Kater
Basil beizubringen, durch einen Reifen zu springen.
    Was Jonnie und Baptizer betraf, so ergaben sie sich dem
Alptrinken, wenn sie einander nicht gerade am Psychobillardtisch
betrogen oder sich gegenseitig unter denselben soffen. Obwohl sie
ihren vinum sanguinis rationierten, ging er ihnen einen vollen
Monat vor unserer Ankunft im Sabik-System aus. Ihre
Traumentzugssymptome waren schlimm. Schmerzen, geistige Verwirrung
und Blutdurst umwölkten ihre Augen, als sie wie masochistische
Ratten, die auf dem Weg in ein sinkendes Schiff waren, in der Fleischtopf herumstreunten.
    Lilits Gegenmittel gegen die Langeweile bestand darin, eine Reihe
von Karikaturen zu zeichnen, die alle ihre chronische Liebe zu
Horrorkapseln widerspiegelten. Ein Polizeikreuzer nähert sich
einer alten Hexe, die mit ihrem Schwebewagen offenbar die
Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten hat, und die Alte
verteidigt sich mit der Äußerung: »Tut mir leid,
Wachtmeister, aber ich hab grade ein Kind im Ofen.« Oder ein
Mann, dessen Mund eine blutige Masse ist, liegt auf dem
Wohnzimmerboden und windet sich, flankiert von einer gesättigt
dreinschauenden Katze und einer desinteressierten Frau, die sagt:
»Was ist denn los, Liebling? Hat die Katze deine Zunge
erwischt?«
    Lilit hatte sich Basil als Modell genommen.
    »Ich mache mir Sorgen wegen dieser Karikaturen«, sagte
ich zu Urilla. »Sie sind so morbid.«
    »Ja, aber Lilit ist nicht morbid, oder?«
    »Nein.«
    »Wenn sie ihre Phantasien nicht bebildern würde,
müßte sie was anderes damit machen.«
    »Du bist die Psychobiologin.«
    »Gib ihr mehr Zeichenpapier, Quinny.«
    Das tat ich. Ich gab ihr mehr Zeichenpapier. Ich schenkte ihr auch
einen Kuchen. Einen selbstgebackenen.
    Der Kuchen war nicht gerade ein Prachtexemplar. Er hatte die
Größe und die Form einer Elektromelone. Seine Schichten
waren unregelmäßig dick, die Kerzen krumm und schief, und
die Glasur war ein Flickwerk, das an einen fadenscheinigen Mantel
erinnerte, durch den man die Haut seines Trägers sehen konnte.
Hier ging es jedoch nicht um Ästhetik; es ging darum, daß
Lilit vierzehn wurde, und sowas muß man machen, wie sich’s
gehört.
    Ich konnte sehen, daß ihr der Gedanke an eine
Geburtstagsparty peinlich war, daß es ihr lieber gewesen
wäre, wenn wir das Ganze fallengelassen hätten. Nach
reiflicher Überlegung beschloß ich jedoch, die

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