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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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durch die Anlagen, und ihre Konzentrationsspanne reicht
gerade für zwei Worte, nicht mehr: gezielter
Todesschuß.«
    »Die machen mir keine Angst«, sagte Mondgesicht.
    »Das ist noch nicht alles«, ergriff ich wieder das Wort.
»Wenn euer Helm leckt, sterbt ihr an Methanvergiftung. Wenn eure
Magnetschuhe versagen, zischt ihr ab in die Ionosphäre. Und wir
dürfen die natürlichen Feinde des Schlingbaums nicht
vergessen. Giftige Raupen. Und Wespen, die ebensogern menschliches
Blut wie Baumsaft saugen. Wir malen ein realistisches Bild, weil ihr
am Schluß tot daliegt, wenn ihr da draußen keine
Realisten seid, und tot nützt ihr uns nichts.«
    »Ich scheiß auf alle diese Wespen«, sagte
Mondgesicht.
    Baptizer lächelte und zeigte dabei seine schwarzen
Zähne. »Ein paar Zahlen. Jeder Angehörige des
Treibguts, den wir anheuern, bekommt zwanzig Farmen zugeteilt. Das
sind zweitausend Furniere, wenn ihr eure Quoten erfüllt. Einen
besseren Preis für geschmuggelte Träume kriegt ihr nirgends
in der Galaxis.«
    Abbie Veel erklärte uns, wir seien verrückt.
    Spike Hooter erklärte uns, er könne mit Autodiebstahl
mehr verdienen.
    Mondgesicht erklärte uns, er würde seine Quote
erfüllen, ehe wir wüßten, wie uns geschähe.
»Zwanzig Äpfel? Zum Teufel, bis nächsten Monat bringe
ich euch fünfzig.«
    Aber das war dem Jungen nicht bestimmt. Vielmehr war es ihm
bestimmt, seinen allerersten Versuch zu verpfuschen, einen Baum zu
bestehlen. Ein Wachposten schoß ihm in den Hinterkopf –
erschoß ihn –, als er gerade dabei war, ein Exemplar eines
Kindertraums mit dem Titel Der wunderbare verzauberte
Gemüsegarten zu entwenden.
    Im großen und ganzen arbeitete unser Apfelschmuggelring
jedoch wie eine klug konstruierte und gut geölte Maschine. Tag
für Tag kamen neue Träume herein. Die Einfuhrstelle war das
Solarium des Verrückten Raben, ein mit Farnen
überfüllter kleiner Raum, der an ein
Schlingbaum-Gewächshaus erinnerte. Je unmöglicher die Zeit
und je schlechter das Wetter, desto wahrscheinlicher war es,
daß ein Angehöriger des Treibguts mit einer illegalen
Frucht auftauchte. Wer gerade Dienst hatte – Urilla, Iggi oder
ich selbst –, nahm den Apfel entgegen, bezahlte den Dieb, trug
die Nummer des Hydrasteroiden ins Logbuch ein, strich die
entsprechende Farm auf Baptizers Karte aus und übergab die Ware
einem Tester. Das waren goldene Tage für Jonnie und Baptizer
– eigentlich ein Urlaub, ein Sterben-und-in-den- Himmel-Kommen.
Sie blieben den ganzen Tag im Bett und verleibten sich Zephäpfel
ein. Ich brachte ihnen Komödien und Heldenepen, Spionagethriller
und historische Abenteuer, Krimis und Erotokapseln, manchmal sogar
etwas Avantgardistisches, das bizarr genug war, ihre sybaritischen
Geschmacksknospen tanzen zu lassen. Sie bekamen Die große
Wandlung und Wenn Schatten fallen und Kron, der
Pfähler und Mann und Trau und Die Würmer
kommen und Hänsel und Gretel kehren in den Wald
zurück und Das Beste von Thuban – Planet der
Gegensätze zu träumen.
    Aber nicht den lauernden Lügner.
     
    Ist Ihnen schon mal aufgefallen, daß die Dinge, die Ihnen am
wichtigsten sind, auch diejenigen sind, die Ihnen die meisten
Probleme bereiten? Ob das Objekt Ihrer Zuneigung nun eine
Kunstrichtung, eine Idee, ein Haustier, ein Elternteil, ein
Lebensgefährte oder ein Kind ist, die Liebe fordert immer ihren
Preis. Wenn ich gerade keine Beute bekam, verbrachte ich meine Zeit
im Verrückten Raben damit, mir Sorgen um Lilit zu machen –
vor allem wegen ihrer Wanderlust, die, wie ich hoffte, kein Vorspiel
zu einer anderen Art von Lust war. Jeden Nachmittag malte sie sich
die Zähne blau an, verließ das Grundstück des
Gasthauses und streifte auf der Suche nach Leuten ihres Alters –
vor allem Jungs – durch Gidim-Xul. Ich konnte es ihr nicht
verübeln. Über ein Jahr lang war sie auf eine Suche
mitgeschleppt worden, deren Zweck ihr nie ganz klar gewesen war, und
sie hatte jedes Recht, sich abzusetzen. Unglücklicherweise waren
die einzigen Jungs in Gidim-Xul unter den ungehobelten
Sprößlingen der Pflücker und, noch schlimmer, bei den
Gassenkindern in den Treibgutvierteln zu finden. Ich spielte mit dem
Gedanken, Lilit in das staatliche Bildungssystem von Uggae zu
stecken, wie es sich vollmundig nannte, um sie besser im Auge
behalten zu können. Ich hatte jedoch genug von der Stadt
gesehen, um zu argwöhnen – zu wissen –, daß ihre
Oberschule eine Brutstätte des Lasters und der
Mittelmäßigkeit war. Vor meinem

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