Der Kontinent der Lügen
geistigen Auge sah ich
alles: die dusseligen Schüler, die rüpelhaften Lehrer, die
verdummenden Lehrmittel und die schlecht beleuchteten Flure, die eine
Freistätte für Episoden des Kidnipkauens und der
Schwängerung darstellten.
Ich beschloß, daß Lilit bei Iggis Lehrplan bleiben
sollte.
Es tritt auf: Rudd Bruzbee, ein schlaksiger Straßenjunge,
fast zwei Jahre älter als Lilit. Er hatte immer denselben
Schmutzfleck auf der linken Wange. Ich dachte, es könnte sich um
ein Hauttransplantat handeln. Waren Rudds Eltern Pflücker oder
Treibgut? Ich konnte es mir nie merken, und es war mir auch egal.
Wenn er um Lilit herumscharwenzelte, konnte er nur eins im Sinn
haben.
»Es gibt Schlimmeres«, erklärte Urilla jedesmal,
wenn ich über Rudds Absichten in bezug auf Lilits
Jungfräulichkeit zu spekulieren begann. »Mir ist es
schlimmer ergangen, als ich in diesem Alter war. Sie ist nicht
aus Porzellan, weißt du. Sie bricht nicht gleich in
Stücke. Aber sie braucht nun mal Freunde.«
»Sicher, sicher«, knurrte ich dann immer.
Eines Morgens sprachen Lilit und ich tatsächlich über
die Angelegenheit, wenn auch nicht so erfolgreich wie der Vater und
die Tochter in Hexclouters Kapsel Wie man mit seinem
heranwachsenden Kind fertig wird. Wir waren gerade mit einem
täglichen Ritual beschäftigt, dem schönsten Teil
meines, wenn auch nicht ihres Tages: dem Frühstück auf der
rückwärtigen Veranda des Gasthauses, einem stattlichen, von
Pfeilern gestützten Ding, das in den Rosamundesee hineinragte.
Die Sonne war ein heller Fleck auf den grauen Wolken. Gänse in
Keilformation zogen rasch über den Himmel dahin. Vor uns dehnte
sich das Wasser über etliche Kilometer, bevor es in einem Nebel
verschwand, der so fest und dauerhaft wirkte, daß er auf der
Karte verzeichnet sein sollte.
»Siehst du den See da draußen?« sagte Lilit und
benutzte ihre Gabel als Zeigefinger. Ein Stück Pfannkuchen
baumelte an den Zinken. »Rudd und ich fahren da drauf rum. Er
hat ein Hausboot.«
»Du bist zu jung für… ein Hausboot.«
»Keine Sorge, Vater. Wir treiben’s nicht miteinander.
Ich hab meine gottverdammte Unschuld noch.«
»Oh.« Ich lächelte schwach, ohne es zu wollen.
»Wir sind bloß Freunde. Nicht so wie Jonnie und ich
– ich meine, nicht so, wie es zwischen Jonnie und mir sein sollte. Aber der hängt ja den ganzen Tag in seinem
gottverdammten Zimmer rum.«
Meine einzige Reaktion war: »Jonnie, hm?« Also: Diagnose
bestätigt. Lilit war in meinen lächerlichen Freund
verknallt. Ich wußte, daß ich das akzeptieren sollte
– Urilla und Hexclouter würden es so wollen –, aber
irgendwie brachte ich’s einfach nicht über mich.
»Sag mal, wie läuft’s denn so in Physik?«
fragte ich. »Lernst du viel von Iggi?«
»Physik«, sagte Lilit, als ob es der Name eines Feindes
wäre. »Mußt du alles so schnell in dich reinstopfen,
Vater?«
»Die sogenannte starke Kernkraft ist eine der vier
grundlegenden Wechselwirkungen im Universum. Nenn mir die anderen
drei.«
»Sex, Hoffnung und Schwerkraft.«
»Wenn du deinen Unterricht nicht ernst nehmen kannst, mein
Kind«, sagte ich erheblich herablassender, als ich beabsichtigt
hatte, »können wir dich immer noch in eine Schule stecken.«
Woraufhin Lilit mich plötzlich anfuhr: »Ich
wünschte, du würdest mich endlich mal in Ruhe lassen,
Vater, wirklich!«
»Ich laß dich ja in Ruhe.« Meine
respektvolle Festigkeit war ein wenig zu fest. »Mehr als die
meisten Eltern es tun würden. Ich laß dich in Ruhe, und
ehe ich mich’s versehe, kreuzt du auf einem bakterienverseuchten
See rum und…« – meine Stimme steigerte sich zu einem
Schrei – »gehst los und verknallst dich in einen
bluttrinkenden…!«
»Weißt du, wieviel du davon verstehst, Vater?«
schrie sie zurück. »Einen Scheißdreck, das
verstehst du davon!«
Sie schoß von ihrem Stuhl hoch, stapfte wütend
über die Veranda und machte einen türenknallenden Abgang.
Zweieinhalb Pfannkuchen vergammelten in ihrem Sirup.
Unsere Auseinandersetzung war nicht nur schmerzhaft und
verwirrend, sondern – wie ich von Dr. Hexclouter wußte
– auch absolut typisch, und so flößte sie mir nicht
nur eine Mischung aus Wut, Unsicherheit, Traurigkeit, Selbstmitleid
und Schuldgefühl ein, sondern rief mir auch den besten Satz aus Wie man mit seinem heranwachsenden Kind fertig wird in
Erinnerung: »Eher geht ein Grorg durch ein Nadelöhr, als
daß die Eltern eines Teenagers ihren inneren Frieden
finden.« In der Tat
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