Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
in denen ich hemmungslos geweint hatte. Bezeichnenderweise
hatten beide mit ihr zu tun.
    Meine Scheidung von Talas war die letzte dieser beiden Episoden
gewesen. Die Tränen waren meiner Erkenntnis entsprungen,
daß Lilit nun ein zentraler Trost meiner eigenen Kindheit
verwehrt sein würde. Meine Eltern hatten nämlich meistens
mit Vergnügen zusammengearbeitet, um mir eine Freude zu
machen. So hatten sie mir genau den richtigen Schlitten zum neunten
Geburtstag gekauft, und zwar gemeinsam.
    Und vor der Scheidung: meine allererste Erfahrung mit
nachpubertärem Weinen. Bei allen schauerlichen Klischees der
Galaxis, es gibt tatsächlich so etwas wie Tränen des
Glücks! Lilit war dieser komische Beutel gewesen, der aus
Talas’ Unterleib quoll, und plötzlich war sie ein
neugeborenes, schockierend komplexes Baby mit all jenen Vorzügen
der Auslese, diesen Daumen und so, und mit einer strahlenden Miene,
die auszudrücken schien: »Wo bin ich? In der
Milchstraße? Prima! Nur weiter so!«
    Als ich jetzt bei Lilit wachte, die in Trance in ihrem Bett im
Verrückten Raben lag, preßten sich meine Augenlider
aufeinander, und die Wasser alter Ozeane brachen wieder hervor. Das
waren keine Tränen der Klage – ich wehrte mich
abergläubisch dagegen, Tränen der Klage zu weinen, weil ich
fürchtete, daß sie Lilits Umnachtung irgendwie
verstärken würden –, sondern eher Tränen einer
unaussprechlichen Empörung. Empörung über Baptizers
scheinbare Doppelzüngigkeit. Empörung über den
Teufelsgott, zu dem meine Tochter jetzt betete. Empörung
über den lauernden Lügner. Empörung über Clee
Selig, weil er den Zephapfel erfunden hatte. Empörung über
Simon Kusk, weil er den Lotosfaktor entdeckt hatte. Empörung
über jeden, der einen Baum ersann, der fähig war, Kinder
niederzustrecken.
    Abgesehen von der Erwähnung meiner Empörung
müßte jeder ehrliche Bericht über meine Emotionen zu
diesem Zeitpunkt das Wort Schuldgefühl enthalten.
Verlassen Sie sich darauf, daß ich nicht versuchen werde,
rational zu erklären, wieso ich so kurzsichtig war, Lilit auf
die Baumjagd mitzunehmen. Ich werde mich nicht mit jenen streiten,
für die ich ein Krimineller bin, weil ich nicht gesehen habe,
daß jedes Unternehmen, bei dem Baptizer Brown dabei war,
schließlich ins Verderben führen mußte. Ich will nur
soviel sagen: Als mein Ego vor das Gericht meines Gewissens gerufen
wurde, als mich mein strenger innerer Ankläger der
Verantwortungslosigkeit zieh und mich der Richter dazu verurteilte,
für den Rest meiner Tage mit mir zu leben, bettelte ich nicht um
Gnade.
    Ich küßte Lilits kraftlose Haare, rückte ihr Kinn
zurecht und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Nichts
hatte die Neutralität behalten, die es eigentlich haben sollte.
Alles strahlte Fäulnis und Verfall aus. Die Kommode schien
Schmerzen zu haben, die Lampe sah mißgestaltet aus, der Schrank
kam mir wie eine Brutstätte für Pilze vor, und der Teppich
schien von Aussatz bedeckt zu sein.
    Du hättest ihre blauen Zähne nicht kritisieren sollen,
sagte ich mir.
    Jonnie kam herein.
    Ich wollte ihn nicht sehen, er aber offenbar mich. Er hatte etwas
auf dem Herzen – daher das Ding, das über seine Schulter
geschlungen war, die Grorgharpune, über die ich mir im Lustigen
Hexenmeister vor so kurzer Zeit erst Gedanken gemacht hatte.
    »Urilla meinte, du würdest mir den Tod an den Hals
wünschen, wenn du hörst, was ich über die Hamadryade
weiß«, begann er. »Sie meinte, du würdest mich
auffordern, mich in mein Schwert zu stürzen.«
    Er trat ans Bett und legte Lilit die Harpune wie eine Opfergabe zu
Füßen. Ihr Gewicht dellte die Matratze ein.
    »Erstens mußt du wissen«, sagte er,
»daß Baptizer gedroht hat, mir den Kopf abzuschießen
– er hat mir immer wieder sein Traktorgewehr gezeigt –,
wenn ich dir je sagen würde, wo die echte Hamadryade zu finden
ist. Zweitens mußt du wissen, daß ich’s dir trotzdem
gesagt hätte – auch wenn der Mistkerl auf mich geschossen
hätte –, wenn ich gewußt hätte, daß deiner
Tochter irgendwas Schlimmes zustoßen würde. Ich wäre
zu dir gekommen. Hätte dir einen Brief zugesteckt. Irgendsowas.
Ja.« Er strich mit der Hand über Lilits in Trance erstarrte
Gestalt.
    Ich hielt den Blick auf den kranken Teppich gerichtet, weil ich
Jonnie den Trost meiner feuchten Augen nicht gönnte, und befahl
ihm weiterzusprechen. »Baptizers Finger am Abzug ist im Moment
ein bißchen steif«, setzte ich in dem Ton hinzu, mit dem
ich

Weitere Kostenlose Bücher