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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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noch einmal überprüfen,
als Urilla mich beiseite führte. Ihre vielseitigen Hände,
die vor so kurzer Zeit erst gegen einen Schlingbaum gekämpft
hatten, führten jetzt all jene Schritte aus, die diese neue
Krisis erforderte: die Kleidung öffnen, den Puls fühlen,
die Luftwege freimachen, die Füße hochheben, um Blut zum
Gehirn zu befördern. Urilla war der am klarsten denkende Mensch,
dem ich je begegnet bin.
    Ich sprang auf den Sand zurück, wo ich unkontrolliert
herumzappelte und auf das Urteil wartete. Das Merkwürdige war,
daß sich meine Gedanken trotz der ganzen Morbidität und
Düsterkeit in meinem Kopf auf Hexclouter konzentrierten. Ja, auf
Hexclouter, den unendlich zungenfertigen Dr. Morris Hexclouter und
seine dämliche Wie man mit seinem heranwachsenden Kind fertig wird-Kapsel. Na schön, Doktor. Mal sehen, wie Sie
mit dem hier klarkommen. Mal sehen, wie Sie mit meiner Heranwachsenden fertig werden. Mal sehen, wie Sie ein
Mädchen heilen, das von einem Pfeil aus dem Holz des Todesbaums
getroffen worden ist.
    »Ich wünschte, ich könnte sagen, daß es gut
aussieht, Quinny, aber das ist nicht der Fall. Lilit ist keine
Kritikerin. Sie hat sich in aller Unschuld und völlig
unvorbereitet auf den Apfel eingelassen. Vermutlich handelt es sich
entweder um eine offene neurologische Krankheit oder – was auch
nicht besser ist – um deren mentales Äquivalent.«
Plötzlich machte Urilla eine Gestaltwandlung durch: von der
Wissenschaftlerin zur Freundin. »Es tut mir so leid,
Quinny.«
    Es war ein Dreieck des Kummers, wie ich wußte, das nicht nur
Lilit und mich, sondern auch sie selbst einbezog. Urillas Liebe zu
Lilit war vielleicht nicht die rasende, ewig besorgte
Sei-um-Himmels-willen- vorsichtig-Liebe, die mein spezielles Privileg
als ihr leiblicher Vater war, aber Liebe war es trotzdem, ohne
daß irgendwelche Verpflichtungen damit verbunden gewesen
wären.
    »Das ist doch nicht meine Schuld, oder?« stöhnte
Iggi. »Ich denke dauernd, es ist meine Schuld.«
    Urilla strich dem Roboter so sanft über die Wange, daß
seine Sensoren nichts davon spürten. »Du hattest keinen
Grund zu der Annahme, daß Lilit in der Nähe vergifteter
Früchte gespielt hat«, sagte sie. Ihre Stimme brach.
»Zum Teufel, vielleicht bin ich ja schuld. Ich habe sie
zu diesem gottverdammten Nekrophilie-Walzer mitgenommen.
Wahrscheinlich hat sie gedacht, sie könnte alles träumen.«
    Rudds Finger verschlangen sich. »Ich hab ihr gesagt, sie
sollte es sein lassen. Wir waren in unserer Höhle,
und…«
    »In eurer Höhle?«
    »In diesem Nebel ist eine Insel, eine verborgene Insel mit
einer – wie ich gesagt hab – mit einer Höhle. Die
erforschen wir immer, Lilit und ich. Und heute liegt da
plötzlich ein Zweig in der Höhle, der nur so vor
Äpfeln strotzt. Einer davon glänzt wirklich toll, der sieht
ganz besonders reif aus. Also sagt Lilit: ›Ich möchte
wissen, was das sein könnte.‹ Und ich sage: ›Untersteh
dich!‹ Und Lilit sagt: ›Den werde ich essen, da kannst du
mich nicht dran hindern.‹«
    Ich ließ mich in den Sand sinken, verrechnete mich dabei und
lag schließlich auf den Knien im Schlamm. Der kalte, klebrige
Matsch drang durch meine Hose und traf auf meine Haut, aber es machte
mir nichts aus.
    »Machen wir, daß wir hier wegkommen«, sagte Urilla
und verwandelte sich wieder in die tüchtige Akademikerin.
»Sie braucht Wärme, Tee und geistige Anregungen. Ich
möchte nicht, daß sie ins Koma fällt.«
    Koma. Wenn man das Wort Koma als Kind zum erstenmal
hört, weiß man sofort, daß es etwas Schreckliches
bedeutet. Spinat könnte auch eine Schuhcreme sein. Mumps
klingt beinahe lustig. Aber Koma!
    »In Gidim-Xul gibt’s ein Krankenhaus«, sagte Rudd.
»Da haben sie mir letztes Jahr den Blinddarm rausgenommen. Ein
Akt der Wohltätigkeit, hat der Arzt gesagt.«
    Wieso redete Rudd jetzt davon? Konnten die Dinge nicht
allmählich wenigstens ein bißchen Sinn ergeben?
    »Ich hab ihm gesagt, er soll sich meinen Blinddarm in
den…« Rudds Augen wurden plötzlich starr. Sein Blick
richtete sich direkt auf Urilla. »Sie kommt doch wieder in
Ordnung, oder?«
    »Ja«, antwortete Urilla. Ich suchte in ihrem Gesicht
nach der inneren Überzeugung und fand nur wenig. »Aber sie
kommt mir in kein Krankenhaus, solange ich’s verhindern kann.
Die stecken sie doch nur auf irgendeine Station und pumpen sie mit
einem schicken neuen Psychopharmakon voll. Also, das hier ist keine
Hebephrenie und keine Katatonie, und sie hat schon

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