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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Lauf, gefolgt von einer kleinen Außenpumpe, gefolgt
von einer Fiberglasstange. Mir kam zu Bewußtsein, daß mir
trotz der vielen Stunden, die ich das Ding bei meinen vorherigen
Besuchen im Hexenmeister angestarrt hatte, noch nie aufgefallen war,
daß ich nicht wußte, was, zum Teufel, es war.
    »Ist das ein Gerät für die Gartenarbeit?«
fragte ich und zeigte darauf. »Oder ein Requisit aus einem
Fantasyspiel?«
    »Eine Grorgharpune«, erwiderte Urilla in ihrem Ton
für unanfechtbare Wahrheiten. »Vielleicht genau die
Grorgharpune, die das Biest getötet hat, in dem Baptizer seine
letzte Traumkapselparty veranstaltet hat.«
    Ich war gerade im Begriff, eine Diskussion über dieses
Stück Technik vom Zaun zu brechen, als ein anderes Stück
Technik hereinkam.
    Iggi.
    Da der Roboter keinen Magen hatte, war es ein Rätsel, was er
hier wollte. Aber das wirklich Merkwürdige war sein Gesicht.
Roboter des Genus Pseudokortex besaßen keine komplette
Muskulatur und trugen folglich nur selten eine unzweideutige Miene
zur Schau. Ohne ein Wort zu sagen oder eine Geste zu machen, strahlte
Iggi jedoch abgrundtiefen Jammer aus.
    »Es ist Lilit«, sagte ich.
    Etwas explodierte in meinem Innern, begleitet von einem scharfen,
blökenden Laut, dessen Urheber ich selbst zu sein schien. Ich
bekam undeutlich mit, wie Urilla fragte: »Ist sie
verletzt?«
    »Sie hat wahrscheinlich einen Zephapfel gegessen«,
antwortete Iggi. »Ich glaube, sie ist in Trance.«
    Das höre ich wirklich, dachte ich. Es ist wirklich gesagt
worden. Da ist nichts, kein Puffer, der mich von diesen Worten
trennt.
    Von uns beiden war nur Urilla zu Logik, Sätzen und Fragen
fähig. »Spricht sie denn nicht?«
    »Nein – oder jedenfalls kaum. Sie sagt nur immer wieder
das gleiche.«
    »Was denn?« fragte Urilla.
    »›Mein einziger Gott ist Goth.‹«
    Urilla langte über den Tisch, stieß das Salz um und
packte mich an der Schulter. »Sie kann den lauernden
Lügner nicht geschluckt haben! Wir haben die ganze Ernte
doch gerade angezündet!«
    »Ja«, stieß ich hervor.
    Wieso war ihr einziger Gott dann Goth?

 
8

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Mord
durch Kunst

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    Es schien nur einen unteilbaren Moment zu dauern, bis wir bei
Lilit waren, als ob ein Voodoo-Vektor den Lustigen Hexenmeister mit
dem stillen, sonnenlosen Strand verbinden würde, wo sie lag. In
Wahrheit mußten wir gute zwanzig Minuten gebraucht haben, um
das Gelände des Gasthauses zu verlassen, durch den Wald zu
stapfen, die Steilwand hinunterzuklettern und in einer der vielen
Lagunen anzukommen, die das östliche Ufer des Rosamundesees
bogenförmig verzierten.
    Zuerst sah ich sie gar nicht. Mein Blick erfaßte die Lagune,
eine Pflanzensuppe aus Unkraut und dunklem Wasser. Er erfaßte
Rudd Bruzbee, Lilits Freund, der wimmernd, zuckend und verstört
Achten in den Sand stampfte. Und er erfaßte Rudds
selbstgebautes Hausboot, eine Hütte auf einem Floß. Das
Boot war an einem Baumstumpf vertäut. Ein antiker
Verbrennungsmotor klammerte sich an sein Heck.
    Lilit war an Deck. Sie lag reglos auf dem Rücken, von der
tödlichen Ruhe der Maid erfüllt, die in Pandriacs Version
der Dame von Shalott den Fluß hinunter nach Camelot
fährt. Schmutz und Schwamm befleckte den gelben Fadenwurmparka,
den sie ständig trug, wenn sie mit Rudd auf dem See herumfuhr.
Ihre Augen sahen alt, trübe und wie eingerostet aus. Kein
Wunder: Ihre geistigen Gegenstücke hatten gerade bizarre Dinge
gesehen, die für ein ganzes Leben reichten. Sie zwinkerte in
Zeitlupe. Fünf Sekunden auf, fünf zu, fünf auf,
fünf zu. Ihre Lippen zuckten. Ihre Daumen zitterten. Aber das
schlimmste Symptom war oben auf ihrem Kopf zu sehen, wo die einst
unbestreitbar kastanienbraunen Locken zu jenem abgedroschenen Synonym
der Angst ausgebleicht waren – weißen Haaren.
    »Lilit!«
    Es war keine Überraschung, daß mein zittriger Schrei
sie nicht weckte und daß der Kuß, den ich ihr auf die
Stirn pflanzte, keine märchenhafte Wiederauferstehung bewirkte.
Als sich mein Gesicht auf sie zu bewegte, wurde es jedoch von kurzen,
raschen Atemzügen gestreift. Die Atemzüge transportierten
Luft, aber keine Worte, kein Hilf mir!, kein Vater, kein Goth. Die Luft war eine gute Nachricht: Ihr Gehirn
würde keinen Sauerstoffmangel leiden. Die Aphasie war
bedenklich: Obwohl der Traum zu Ende war, dauerte seine Wirkung an.
Der Todesbaum hatte meine Tochter so sicher in seiner Gewalt, als ob
einer seiner Tentakel um ihren Hals geschlungen wäre.
    Ich wollte gerade Lilits Atmung

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