Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
den Mittagsgluten,
    Erstarrt darauf im Abendwind
    Zu zähem Harz an spröden Ruten.
     
    Kein Vogel baut sich dort sein Nest,
    Kein Tiger naht. Nur dunkle Schwaden
    Wehen heran, die er entläßt,
    Schon mit dem Todeskeim beladen.
     
    Wenn eine Regenwolke netzt
    Des Baumes abgestorbne Spreiten,
    Sind schon die Tropfen giftdurchsetzt,
    Die von dem Blatt zu Boden gleiten.
     
    Sobald Flick fertig war, mußte er das Lied noch einmal
singen.
     
    Stamm. Was für ein hübscher Laut – Stamm – wie der Stempel, der endlich auf ein entscheidendes
Dokument knallt. Der Stamm der Hamadryade, ein riesiger
hölzerner Turm, stieg aus dem Dschungel nach oben und verlor
sich im Nebel. Überall an seiner Rinde erstreckten sich
Äste strahlenförmig in jede Kompaßrichtung, so
daß der Ast, dem wir gefolgt waren, nur eine einzelne Speiche
in einem ungeheuren, mystischen Rad zu sein schien. Wo der Stamm war,
da war auch die Pfahlwurzel. Unsere Suche war vorbei.
    Nein, nicht ganz. Als wir uns dem Stamm näherten,
verbreiterte sich der Fluß zu einem Gebilde, das Flick als
›Sumpfsee‹ bezeichnete. Es war so ausgedehnt, daß es
den Stamm selbst umfaßte, und in diese Fläche aus Schlick,
Wasser, Saft und Schlamm hatten die tiefergelegenen Zweige der
Hamadryade einen konzentrischen Kreis aus Nebenwurzeln nach dem
anderen gesenkt.
    »Judas am Krückstock!« sagte ich, als mir die
Implikationen dieser Geographie klar wurden. »Die Pfahlwurzel
ist unter Wasser! Was nun? Ich hab meine Kiemen im gottverdammten
Devon zurückgelassen!«
    Flick lächelte und zeigte dabei die meisten seiner
Zähne. »Glauben Sie, ich hätte Sie so weit gebracht,
wenn der Baum unbezwingbar wäre? Keine Sorge, meine Herren. Der
Weber der Hamadryade hat vorhergesehen, daß einmal eine Zeit
kommen könnte, wo Atropos oder ich gezwungen sein würde,
ihr Gehirn hervorzulocken.«
    »Um sie zu töten?« fragte ich
ungläubig.
    »Um sie zu heilen. Man weiß nie, wann ein
Schlingbaum krank wird, Mr. Quinjin, und wenn man mal einen hat, der
wirklich Gewinn abwirft, dann will man unter keinen Umständen,
daß er einem wegstirbt oder wahnsinnig wird. Die Hamadryade ist
bis jetzt so gesund wie ein Stein gewesen, aber vor fünf Jahren
hab ich im Gürtel gearbeitet, und zwar mehr als Arzt denn als
sonst was. Wir haben ungefähr fünf Tumore im Gehirn vom Meer der Stille gefunden. Geschichten alter Frauen – ja richtig, deren Wurzel hatte ein Virus, das
interferonisiert werden mußte. Und ohne Neurochirurgie
wäre Chronik meines Selbstmords nie über ihre
Depression weggekommen.«
    Je näher wir an die Nebenwurzeln herantrieben, desto klarer
wurde es, daß die Amarant zu groß war, um zwischen
ihnen durchzukommen. Jonnie schlug vor, uns mit seinem Schwert einen
Weg freizuhacken, aber dann erinnerte ich ihn an unsere katastrophale
Begegnung mit dem Narrenparadies. »Wenn du diesen Wurzeln
zu nahe kommst, strangulieren sie uns, bis wir tot sind.«
    Flick ging nach achtern. Er kam mit der Grorgharpune zurück
und begann sie mit unserem Belladonna 29 zu laden.
    »Von nun an geht diese Expedition mit dem Rettungsskiff
weiter«, erklärte der Vorarbeiter. »Ich möchte
anheuern, und ohne unsere Saufeder sind wir hier nichts wert. Das
heißt, einer kann noch mit. Und es wäre auch gut, wenn
noch jemand mitkäme, denn – wie der mit Gin abgefüllte
Priester in Ertränkte Sorgen sagt – allein nehme
ich’s nicht mit der Bestie auf.«
    »Nein«, sagte ich ruhig. »Du tust es zusammen mit
mir.«
    »Ich hab mir gerade vorzustellen versucht, wie du die
Hamadryade anlockst«, sagte Jonnie. »Wie machst du das? Mit
Schmeicheleien?«
    Flick streichelte die Harpune. »Der Weber hat eine
Beschwörungsformel in ihre Speicherneuronen
eingegeben.«
    »Klingt wie Zauberei«, sagte ich.
    »Ganz recht«, erwiderte Flick Longslapper, der
Vorarbeiter, Zephapfelexperte und Zauberer.

 
12

----
Der Schatz
des Baumes

----
     
     
    Die Hamadryade stand wie ein Krebs mit Millionen von Beinen
über dem Sumpfsee und trotzte unserem Versuch, ihr Gehirn zu
finden. Überall um uns herum erhoben sich Wurzeln aus dem
Wasser, liefen hoch über uns zusammen und verwoben sich zu einem
gewölbten Baldachin, durch den kein Sonnenstrahl drang. So kam
es, daß unser Skiff durch Dunkelheit fuhr, das seltenste
Phänomen im Reich des Todesbaums.
    Die Grorgharpune war an der Ruderbank im Bug festgezurrt, und ihr
Lauf ragte nach vorn übers Wasser. An der Spitze der Harpune
hing eine schwankende Leuchtkugel. Flick und

Weitere Kostenlose Bücher