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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Sinnesorgane. Ich benutzte
sie zum Klettern. Die Wasserlinie hatte der Kreatur einen Anschein
von konventioneller Anatomie gegeben – der Rücken in der
Luft, der Bauch unter Wasser –, und so stieg ich langsam,
unbeholfen und klatschnaß auf ihren Rücken, wobei ich die
Harpune hinter mir herschleifte. Die Ohrnoppen hörten mich, die
Augennoppen verfolgten mich, die Mundnoppen gierten mit knorpeligen
Klicklauten nach mir. Als ich mein Ziel erreicht hatte, kniete ich
mich wie zum Gebet hin, aber meine Absichten hatten auch nicht im
mindesten etwas mit Andacht zu tun.
    Und auf einmal war ich Quinjin der Kritiker. Ich analysierte, wo
ich doch hätte handeln sollen. Was analysierte ich? Mein
Zögern. Warum zögerte ich? Weil ein Teil von mir wie die
wahnsinnigen Pflücker und der verstorbene Baptizer Brown und
jeder andere war, der sich den lauernden Lügner einverleibt haben mochte. Ein Teil von mir war ein Gothiker. Ein
Teil von mir wußte – trotz meiner Unfähigkeit, mich
an den Schluß des Traums zu erinnern –, daß es die
höchste Blasphemie sein würde, die Mutter meines einzigen
Gottes zu töten.
    Dann dachte ich an Lilit. Mehr war nicht nötig.
    Als Ziel suchte ich mir die Achse der sieben Augen und sieben
Schnäbel um mich herum aus. Die Eingebung sagte mir, daß
diese Stelle verwundbar war. Die Augen beugten sich vor wie
Mohnblumen im Wind, die Schnäbel waren halb offen, und in dieser
enervierenden Umgebung spannte ich all meine Muskeln für einen
gewaltigen, nach unten gerichteten…
    Stoß!
    Woraufhin Lilit, wie Urilla mir später erzählen
würde, aufstöhnte und auf der Stelle wieder in ihre Apathie
verfiel.
    Die Harpune drang mit dem Geräusch eines kleinen, aber
komplexen Organismus, der unter den Füßen zertreten wird,
in die Wurzel ein. Grünes Harz spritzte mir ins Gesicht und lief
mir in heißen Rinnsalen über die Wangen. Blindlings griff
ich an meinen Gürtel und drückte auf den Schalter. Als das
Gift in die Kanäle der Hamadryade schoß, öffneten
sich ihre Schnäbel weit, und ihr Kreischen war wie die Schreie
von Folteropfern. Als ich mir den Saft aus den Augen wischte, sah
ich, daß sich die Augen des Baums auf ihren Stielen drehten und
dabei Tränen des Schmerzes in alle Richtungen schleuderten. Fest
entschlossen, mich nicht vom Mitleid übermannen zu lassen,
riß ich die Harpune heraus und stach wieder und wieder auf die
Wurzel ein – und stieß immer noch nicht auf Grund.
    Jetzt begrub ich die Harpune bis zur Stange, so daß sie wie
eine Boje aus der Wunde herausragte, um die sich eine Pfütze
bildete. Saft lief in die Furchen an der Flanke des Ungeheuers und
verwandelte sie in Bäche. Die Hamadryade wand sich, erzitterte
und lag still.
    Mir kam in den Sinn, daß dies die schlechteste Kritik war,
die eine Traumkapsel jemals von mir bekommen hatte.
    Das Geschrei verstummte. Die Schnäbel schlossen sich. Aber
Sekunden später begannen sie sich mit einem tiefen,
verzweifelten Skreeeee zu teilen, als ob sie sich an
überlasteten Scharnieren bewegten. Erneut gaben die
Schnäbel Laute von sich, aber statt der erwarteten Todesschreie
hörte ich das artikulierte Gestotter eines Wesens, das
mühsam zu sprechen versuchte.
    »Buh-buh-buh-buh-buh«, sagte der angeschlagene Baum,
wobei er etwa ein Drittel seiner Zungen zu einem tiefen, asynchronen
Chor arrangierte.
    »G-g-glocken«, sagte Goths Mutter schließlich.
Ihre Stimmen waren matte, aber wohltönende Zischlaute.
»Glocken.«
    »Glocken?« fragte ich.
    »Glocken«, sagte der Baum. »Keine Glocken?«
fragte er.
    »Keine«, sagte ich.
    »Dann ist es also eine Illusion. Ich habe viele.«
    »Eine Illusion«, wiederholte ich mechanisch. Ich war wie
vom Donner gerührt. »Du kannst sprechen!«
    »Sprechen? In der Tat! Mein Sprachzentrum nimmt ein
Fünftel des Gehirns ein.«
    Wieder fehlten mir die Worte, so daß ich die nehmen
mußte, die ich gerade gehört hatte. »Dein
Sprachzentrum«, murmelte ich. »Ein Fünftel des
Gehirns«, fügte ich hinzu.
    »Das Problem ist«, krächzte die Hamadryade,
»daß niemand antwortet, wenn ich etwas sage. Deshalb
halluziniere ich. Wenn man hier festgewurzelt ist, während ein
Tag auf den anderen folgt, wird man… gleichgültig. Manche
Menschen beneiden mich, da bin ich sicher. Sie glauben, daß ich
dem Universum ein oder zwei Wahrheiten abgerungen haben muß,
weil ich so viel Zeit totzuschlagen habe. Sie glauben, daß
ich… erleuchtet bin.«
    »Und bist du’s?«
    »Ja. Es ist langweilig. Was meinst du

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