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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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wohl, was ich mir in
all diesen Jahren am meisten gewünscht habe? Ich will es dir
sagen: eine Flöte – und eine Hand, um die Klappen zu
bedienen. Eine richtige Hand, meine ich, nicht bloß einen
Zweig. Etwas mit einem Daumen. Ein Daumen ist wichtiger als die
Wahrheit. Nachts träume ich oft von Daumen. Sterbe ich,
Reisender?«
    »Ja.«
    »Gift?«
    »Belladonna 29.«
    »Das dachte ich mir. Ich habe versucht, der Beschwörung
meines Schöpfers zu widerstehen, aber wie konnte ich? Sie ist
ein Teil von mir. Ich wußte, daß wir so enden
würden, ich und meine bösartigen Äpfel. Glaubst du, es
sind meine Äpfel, was ich da höre? Wie sie an ihren Zweigen
schaukeln und ihre eigene Totenglocke läuten? Aber nein, du hast
es mir ja bereits gesagt. Ich habe Halluzinationen.«
    »Meine Tochter hat einen deiner Äpfel
gegessen!« schrie ich der Hamadryade in ihre
überreichlichen Ohren.
    Sie grunzte. »Du mußt mich verabscheuen. Aber denk
daran, ich habe nicht darum gebeten, Lotoskapseln zu bekommen.
Wenn du mich kennen würdest, wäre dir klar, daß ich
eigentlich eher der Typ bin, der ganz auf Liebe steht. Würdest
du einem sterbenden Baum einen letzten Wunsch erfüllen? Wenn ich
tot bin, dann koche mich zu Brei. Mach Papier aus mir – ein
Buch, ein großartiges Buch, ein romantisches Buch. Ich gebe
genug Papier ab für zehn Milliarden Exemplare. Schenk mir ein
neues Leben in Gestalt eines großartigen romantischen Buches,
Reisender – ich war zu lange Der lauernde
Lügner.«
    Ich hatte in der Tat damit gerechnet, daß ich den Baum
›verabscheuen‹ würde. Und dennoch konnte ich es nicht.
Ich erkannte, daß die Hamadryade nicht gleichbedeutend mit
ihrer Frucht war. Sie war nur ein Gefäß. Ein Kanal. Sie
war ein weiteres Opfer ihres Schöpfers.
    »Mein wahrer Feind ist weit von hier«, sagte ich
unschlüssig.
    »Das stimmt, Reisender. Ich wünschte, ich könnte
deiner Tochter helfen, aber ich…«
    »Wer kann ihr denn helfen?« Ich blickte der
Hamadryade in so viele Augen, wie es irgend ging.
    »Du mußt zu einem anderen Stern fliegen – nach
Ninnghizzida. Auf dem Planeten Absu gibt es eine Burg namens Kharsog.
Sie liegt in der Nähe der Stadt Ushumgallum. Dort führt
mein Schöpfer seine Experimente durch, plant seine schlimmen
Taten und unterrichtet die Schüler des
Lotos-Instituts.«
    »Ninnghizzida«, wiederholte ich leise. »Aber ich
sitze hier im Innern von Uggae fest, und überall um mich herum
wimmelt es von deinen wilden Pflückern.«
    »Klettere an meinem Stamm nach oben«, riet die
Hamadryade. »Immer weiter. Senkrecht nach oben, ganz gleich, was
geschieht. Höher, höher, bis in meine Krone. Du wirst in
der Nähe von Mulla-Xul herauskommen.«
    »Du hast von den Experimenten deines Schöpfers
gesprochen«, sagte ich. »Was ist dieser Lotosfaktor? Wie
erlangen deine Träume diese Hyperrealität?«
    »Dieses Wissen ist mir ebenso verboten wie dir. Nur mein
Schöpfer…«
    »Dein Schöpfer«, sagte ich leise.
    Die Wurzel starrte mich hundertfach an. »Er nennt sich Baron
Kharsog, aber das ist nicht sein richtiger Name.«
    »Wie heißt er dann?«
    »Mein Schöpfer ist Simon Kusk«, erklärte der
Baum.
    »Simon Kusk ist schon vor deiner Geburt gestorben«,
protestierte ich. »Clee Selig hat ihn totgeschlagen.«
    »Mein Schöpfer ist Simon Kusk«, wiederholte der
Baum.
    »Wie kann das sein?«
    »Glocken«, sagte jeder einzelne Mund. »In meinem
Geist. Glocken.«
    »Simon Kusk war – ist ein böser Mensch. Und
trotzdem kann er…?«
    »Glocken… Die Hoffnung für deine Tochter liegt in
der Kharsog-Festung… Glocken… Diese Information ist der
Schatz, den ich dir zu geben habe… Glocken… Glocken!
Buh-buh-buh-buh…!«
    Ein Schauer lief unter der Haut der Hamadryade dahin wie ein
riesiger, wandelnder Tumor. Ihre Augen erloschen. Ihre Schnäbel
fielen zu, verschlossen von unerklärlichen Schlössern.
    Wir sanken jetzt, die tote Wurzel und ich. Das Wasser der Lagune
erwärmte meine Knie, und ich sprang ab. Ein Dutzend rasche
Schwimmzüge brachten mich zu Flick.
    »Das war heldenhaft«, sagte er und meinte es auch so.
»Sie waren Broc Hornlaster in Unbekannte Parseks. Sie
waren Prinz Bizbac im Schwefelschloß.«
    »Wir holen Jonnie«, sagte ich ruhig, selbstsicher,
hornlasterlich und bizbacmäßig, »und kommen wieder
hierher.« Ich wiederholte die Behauptung der Hamadryade,
daß wir entkommen könnten, indem wir den Stamm
hinaufkletterten.
    »Das hat sie Ihnen gesagt ?«
    »Ja. Die Hamadryade war… weise.

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