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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Spürte der Fahrkartenverkäufer das Widerstreben
in meiner Stimme, die Angst? »Ich bin der Vorarbeiter, der
für die Hamadryade verantwortlich ist.«
    Kusks Antwort: Er soll morgen wiederkommen.
    Ich hatte keine Trümpfe mehr im Ärmel und keine
Lügen mehr parat, aber irgendwie wußte ich, daß es
nichts ausmachen würde. Die Sonne ging unter und wieder auf, und
der Diener verkündete, daß Baron Kharsog mir so viele
Fahrkarten geben würde, wie ich haben wollte.
    »Ich brauche vier«, sagte ich.
    »Können Sie sich ausweisen?«
    So ostentativ, wie man ein kleines Plastikrechteck aus seiner
Weste ziehen kann, tat ich das mit Flicks Paß. Der
Fahrkartenverkäufer nahm ihn mir aus der Hand, musterte ihn
prüfend und bemühte sich, so zu tun, als sei er nicht
beeindruckt. Ich hielt den Atem an. Jonnie hatte das Holo von Flick
geschickt abgezogen – eine für Alptrinker typische
Fähigkeit – und es durch ein Bild von mir ersetzt. Falls
der Verkäufer den Betrug bemerkte, so ließ er sich nichts
anmerken. Statt dessen öffnete er die Schublade, in der er die
alten Ausgaben von Traumkapseln Entschlüsselt aufbewahrte, und holte vorsichtig vier Metallscheiben heraus,
jede von der Größe eines Vokalits. Als er sie auf den
Schreibtisch legte, folgte mein Blick dem Möbiusband auf seiner
Brust. Ich bewegte mich außen entlang, dann innen, dann
außen und dann wieder innen.
    Außen.
    Innen.
    Und nicht der geringste Übergang zwischen den beiden
Welten.

 
14

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Der Mann mit
Gottes Antlitz

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    Die Knochenjongleure. Es hörte sich nach einer
Alptrinkersekte an, aber in Wirklichkeit war es der Gruppenname der
acht Fahrgäste, mit denen wir in der Magnetschwebebahn zum
Lotos-Institut fuhren. Sie waren eine Truppe von Wanderschauspielern,
die zu einer Galavorstellung vor Baron Kharsog und seinen
Schülern unterwegs waren. Mit einer Mischung aus Neugier und
Niedergeschlagenheit überlegte ich, was für eine Art
Theater der Schöpfer des lauernden Lügners wohl
unterhaltsam finden mochte. Ob die Knochenjongleure auf der
Bühne Kinder zur Welt brachten und sie dann an
Schlingbäumen aufhängten?
    Unsere Mitreisenden – allesamt jung und vor Gesundheit
strotzend – verloren keine Zeit und teilten uns sofort mit,
gutes Essen sei für sie heilig. Je mehr sie sich über ihre
Kost verbreiteten, desto mehr erkannte ich in ihnen jene Sorte von
Primitivisten, die bei der Nahrungsaufnahme so peinlich genau den
schärfsten Reinheitsgeboten folgen, daß sich einem der
Verdacht aufdrängt, ihre Gedärme hätten schon seit
Jahren keinerlei Abfallprodukte mehr hervorgebracht. Die
Knochenjongleure redeten zu viel und lächelten zu wenig. Aber
trotzdem merkte ich, daß ich sie bewunderte – ihre
Ernsthaftigkeit, ihre Energie und besonders ihren Regisseur, Torin
Diffring, der einem bloß zu sagen brauchte, wie spät es
war, um einem das Gefühl zu geben, eine intensive und liebevolle
psychotherapeutischen Behandlung bekommen zu haben.
    Kusks Zug war ein symmetrisches Gebilde. Er hatte einen
computergesteuerten Aussichtswagen an jedem Ende und einen
Konversationswagen in der Mitte. Die Wagen waren innen und
außen so schwarz wie die Todesbaumlagune. Torins Jongleure
besetzten die ersten beiden und überließen mir und meinen
Freunden den hinteren Aussichtswagen. Dort waren wir ganz für
uns, was ich außerordentlich zu schätzen wußte.
Schauspieler in meiner Nähe – ganz gleich, was für
Schauspieler es waren – machten mich nervös. Ich rechnete
dauernd damit, meine Exfrau bei der Truppe anzutreffen. (»Hallo
Talas, schön, dich mal wieder zu sehen. Lilit? Die ist eine
richtige Künstlerin geworden. Ach, und noch was. Sie ist
geisteskrank.«)
    Unser Höllenzug sauste auf einem weichen Repulsionskissen aus
Ushumgallum davon. Die Führungsschiene strömte wie ein
stählerner Wasserfall unter uns dahin. Fahrten mit der
Magnetschwebebahn: ein Nirwana mit fünfhundert
Stundenkilometern. Genau das Richtige für ein Nickerchen. Ich
machte eins. Mein periodisch wiederkehrender Alptraum blieb aus. Er
war seit Monaten nicht mehr aufgetreten. Ein gutes Omen, dachte
ich.
    Ich wachte auf. Lilit saß apathisch im Gang, führte
Selbstgespräche und zeichnete ein Bild von Goth nach dem
anderen: Goth im Profil, Goth im Halbprofil, Goth in Vorderansicht
mit kreisförmigen Blitzen drumherum, Goth im Kampf mit
irgendeiner dämonischen Gottheit. Ein paar Plätze von ihr
entfernt las Urilla eine alte Ausgabe von Traumbohnen
Entschlüsselt.

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