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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Botschaft in nichts auflöste, verfiel der
Fahrkartenverkäufer in ein kaltes, bösartiges Schweigen. Er
zog eine Schublade am Schreibtisch auf und holte eine alte Ausgabe
von Traumkapseln Entschlüsselt heraus. Das
Möbiusband auf seiner Brust dehnte sich aus und zog sich
zusammen, als er atmete.
    Ich stand fünfzehn geschlagene Minuten an der Tür,
ließ meinen Blick durchs Zimmer wandern und kochte stumm vor
Wut. Die Wände waren mit Zeichentrickwerbung bedeckt, die junge
Männer und Frauen aufforderten, im Lotos-Institut das Traumweben
zu erlernen.
    Geflimmer erschien auf dem Bildschirm.
    Ich hüstelte. Der Fahrkartenverkäufer ließ sich
absichtlich noch einen Augenblick Zeit und warf dann einen Blick auf
die Botschaft.
    »Baron Kharsog hat eine Entscheidung getroffen.«
    »Ja?«
    »Sie lautet, daß Sie in neun Tagen wiederkommen
sollen.«
     
    Der einzige Psychosalon in der Stadtmitte von Ushumgallum trug den
verräterischen Namen Priapis. Ich war froh über die
Attraktionen, die hier geboten wurden – allesamt Erotokapseln
–, nicht weil sie irgendwas taugten, sondern weil sie Urilla
erheblich mehr Stimulation boten, als sie von mir bekam. Seit Lilit
von der Hamadryade gegessen hatte, war körperliche Lust in
meinen Augen eine Blasphemie, und das Zölibat war mir ein
elementares Bedürfnis.
    Wenn ich die Zeit nicht im Priapis totschlug, begleitete ich
Lilits umnachteten Tagesablauf. Auf Lilit aufzupassen war eine
Pflicht, die wir in jenen Tagen alle äußerst ernst nahmen.
Wir wußten, daß Selbstmord für Menschen in ihrer
Verfassung bestenfalls ein ständiges Thema und schlimmstenfalls
etwas Unvermeidliches war. Sie wachte mit einem idiotischen Grinsen
im Gesicht auf, nahm ein ungesundes Frühstück zu sich,
hörte Rodnie Quash per Vokalit und Goth per Halluzination,
schlang ein ungesundes Mittagessen hinunter, fertigte einen Haufen
von Goth-Zeichnungen an, starrte ins Leere, wobei sie in ihrer
Geheimsprache vor sich hinmurmelte, und aß ein ungesundes
Abendessen; an der Reihenfolge der Aktivitäten meiner Tochter
änderte sich nie etwas, ebensowenig wie an ihrer Sinnlosigkeit.
An einem kalten und freudlosen Abend erklärte mir Urilla,
daß heute Lilits fünfzehnter Geburtstag sei.
    Von ihren drei Wärtern entwickelte nur Jonnie ein klinisches
Interesse an Lilits Verhalten. Ihre Symptome faszinierten ihn. Er
versuchte ständig, sie in bezug zum lauernden Lügner zu interpretieren. »Gab’s da eine Hungerszene in dem
Traum?« Solche Sachen fragte er mich dauernd. »Vielleicht
ißt sie Gummibomben, weil der lauernde Lügner versucht
hat, sie verhungern zu lassen.«
    »Ich erinnere mich an keine Hungerszene.«
    »Denk nach, Quinjin. Eine Hungerszene!«
    »Ich habe wirklich keine Lust, darüber zu
reden.«
     
    Der neunte Tag. Als ich zu Zimmer Siebzehn im Bahnhof
zurückkehrte, erfuhr ich von dem Fahrkartenverkäufer,
daß Baron Kharsog keine Zeit hatte, mich zu empfangen. Ein
Rückschlag, aber ich war vorbereitet.
    »Sagen Sie Ihrem Herrn, daß meine Tochter einen Apfel
mit dem Titel Der lauernde Lügner gegessen hat. Sagen Sie
ihm, daß ihr einziger Gott Goth ist.«
    Als Kusks Antwort kam, hatte ich dem funkelnden Blick des
Fahrkartenverkäufers getrotzt und war neben ihn getreten, so
daß ich lesen konnte, was auf dem Bildschirm stand.
    Er soll in drei Tagen wiederkommen. Zu mehr hatte Kusks
Neugier nicht gereicht.
    Der Planet Absu drehte sich dreimal um seine Achse.
    Das Verdikt wartete auf mich. Es leuchtete in spöttischem
Grün. Der Fahrkartenverkäufer zeigte auf den Bildschirm und
schürzte seine Lippen zu einem höhnischen Grinsen.
    Der Fall, den dieser Mann vorträgt, ist für mich
nicht von Interesse, schrieb Kusk. Er soll dorthin
zurückkehren, wo er hergekommen ist.
    Verzweiflung. Es war an der Zeit, Lügen zu erzählen. Ich
sah keine andere Möglichkeit. Vor unserer Trennung auf Uggae
hatte Flick zu mir gesagt: »Es gibt wahrscheinlich nur eine
Möglichkeit, wie Sie diesen Kusk mit Sicherheit dazu bringen
können, Ihnen eine Audienz zu gewähren. Sie müssen
behaupten, Wissen aus erster Hand über das Kind seiner kreativen
Phantasie zu besitzen – Sie müssen behaupten, der
Vorarbeiter seiner Traumfarm zu sein. Nur zu – seien Sie ich.
Seien Sie Flick Longslapper. Das ist kein Zuckerschlecken, das kann
ich Ihnen versichern.« Und dann war der nette Zwerg
aufgebrochen, um sich auf die Suche nach seinem Paradies zu
machen.
    »Sagen Sie Ihrem Herrn, daß mein Name Flick Longslapper
ist.«

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