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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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vorgesetzt
wird!«
    Torin trug den letzten Nebensatz vor, als ob er die Pointe eines
Witzes wäre, und ich glaube wirklich, er erwartete, daß
wir lachen oder sogar applaudieren würden.
    Schließlich brach der Regisseur das entsetzte Schweigen.
»Es gibt nur eine Aufführung, mein Freund. Lerne deinen
Text gut.«
    Torin erläuterte die Sache näher, indem er uns verriet,
daß der Baron seine Schüler jedes Jahr vor den
Semesterferien zu einem Bankett einlud, wobei die Knochenjongleure
für die Unterhaltung nach dem Abendessen zu sorgen hatten.
»Er behauptet, wir würden ihn zu seinen
Zephapfel-Webbüchern inspirieren.«
    »Spielt ihr immer den Thyestes?« erkundigte sich
Jonnie.
    »Nein, aber wir entfernen uns nie weit von dem Genre. Manche
nennen es Grand-Guignol. Für andere ist es das Theater der
Rache. Baron Kharsog mag starke Sinneseindrücke am
liebsten.«
    Ich fragte ihn, ob sie schon mal was mit einem Mann gemacht
hätten, der einen Ziegenbock durch einen Irrgarten jagte. Nein,
das hatten sie nicht.
    In der nächsten halben Stunde ergötzte und entsetzte uns
Torin abwechselnd mit Geschichten von früheren
Semesterabschlußbanketten. Die denkwürdigste – oder
nach Kharsogs Kriterien inspirierendste – Produktion der
Jongleure war eine Nacherzählung von Oedipus Rex. Am Ende
dieser Version, als der arme, ruinierte König sich zu blenden
versucht, beginnen – plopp – plopp – plopp – Augäpfel nacheinander aus dem Kopf des
Schauspielers zu schießen und das Publikum zu bombardieren.
Torin wollte gerade enthüllen, wie dieser denkwürdige
Effekt bewerkstelligt wurde, als eine seiner Naiven erschien –
ein bezauberndes Mädchen, so schön wie Lilit und mit einer
Haut wie Porzellan – und verkündete, daß wir bald da
sein würden.
    Jonnie und ich folgten dem Regisseur in den vorderen
Aussichtswagen. Mehrere Jongleure drängten sich vor der
Aussichtskuppel und kämpften um die beste Position. Ich
zwängte mich in die Menge und schob mich nach vorn durch.
    Was ich sah, rief sofort Erinnerungen an einen bestimmten
Schlingbaum wach. Die Kharsog-Festung lag in den hohen, spitzen
Bergen; der Turm erhob sich wie der Stamm der verblichenen Hamadryade
aus der Tundra und ragte mit einer Hybris in die Wolken, die es seit
dem Turmbau zu Babel nicht mehr gegeben hatte. Die zylindrische
Fassade hatte überall Sprünge und Risse, so daß die
Festung wie eine zersprungene Vase aussah, die repariert worden war,
indem man die Stücke sorgfältig wieder zusammengeklebt
hatte. Helle Fenster sprenkelten die Mauern. Dahinter ging
Ninnghizzida in den dunklen Bergen unter.
    Ich musterte die näherkommende Burg und versuchte einen Blick
von meinem Feind, von meiner Hoffnung zu erhaschen, aber ich sah nur
Lichter und Schatten und wildes Schneegestöber.
     
    Kusks private Magnetschwebebahnlinie endete im Innern einer
Konstruktion, die so hart und höhlenartig war, daß sie
ganz von allein Echos erzeugen zu können schien. Die Dimensionen
dieses Bahnhofs wirkten besonders bombastisch auf mich, als mir klar
wurde, daß es in dem ganzen Ding nur einen einzelnen
Schienenstrang gab. Ich sollte jedoch bald feststellen, daß
alles in der Kharsog-Festung solche bombastischen Ausmaße
hatte.
    Wir stiegen mit unserem sperrigen Gepäck aus dem Zug und
sammelten uns wie von selbst in zwei Gruppen, dem Ensemble von Thyestes und der Bruderschaft für Lilits Rettung. Es
freute mich, daß Jonnie sich zu Lilit stellte, die Hand am
Schwert. Steinmosaiken mit nichtfigürlichen Mustern klackerten
unter unseren Füßen. Wandteppiche mit den Darstellungen
großer Augenblicke der Zephapfelgeschichte wogten an den
Marmorwänden. Die Demaskierungsszene aus Taktik des Spuks war besonders gelungen.
    Wir wurden fast auf der Stelle von einem Roboter des antiken Typs
›mechanischer Mensch‹ begrüßt. Seine Arme waren
perfekte Zylinder, sein Rumpf ein Metallkeil mit spitzen Winkeln,
sein Gesicht eine grelle homo sapiens- Karikatur. Er bewegte
sich auf Rädern, ebenso wie der Trichterwagen, der aus seinem
Hintern herausragte wie die Pferdehälfte eines Zentauren.
    »Ihre Fahrkarten bitte.« Die Stimme des Zentauren war
von statischem Rauschen erfüllt.
    Ich zog die vier Scheiben aus meiner Jacke und breitete sie
fächerförmig aus wie ein Sieben-Todsünden-Blatt. Der
Zentaur schnappte sich die Fahrkarten sofort und zerknüllte sie
zu kleinen Bronzeklümpchen.
    »Legen Sie Ihr Gepäck in den Trichterwagen«, sagte
er. »Das Schwert auch«, fuhr er fort,

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