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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Jonnie war in eine lebhafte Unterhaltung mit
Torin Diffring vertieft. Torin war dünn und muskulös; sein
Gesicht war offenkundig daran gewöhnt, in Spiegel zu schauen und
zu mögen, was er dort sah.
    Draußen in der Tundra flogen Dschungelee-Bohrtürme
vorbei, dunkle, wolkenkratzerförmige Obelisken, die in einen
verschneiten Himmel schnitten.
    Der Alptrinker rief mich herüber und lud mich mit einer
Handbewegung ein, Platz zu nehmen; den Sitz hatte Basil jedoch
bereits mit Beschlag belegt. Ich hob den Kater auf, so daß er
sein Fahrwerk ausfahren konnte, und warf ihn auf den Gang.
    »Weißt du was?« sagte Jonnie. »Ich werde
Schauspieler.«
    »Eigentlich waren wir für einen Nachtzug gebucht«,
erklärte Torin und teilte seine Aufmerksamkeit zwischen mir,
seinen Worten und seinem Vortrag auf, »aber dann brach eine
Tragödie über uns herein.« Nur aus dem Mund eines
Menschen mit Torins hervorragender Diktion konnte ›eine
Tragödie brach über uns herein‹ wie ein ganz normaler
Satz klingen. »Pauli Wikanow – der arme kleine Kerl, er
mußte ja unbedingt in diesen elenden Salon im Zentrum von
Ushumgallum gehen.«
    »Ins Priapis?« fragte ich.
    »Genau. Irgendwie hat er uns alle beschwatzt, dorthin zu
gehen. Ein Stück mit dem Titel Nicht Worte, sondern Taten
– der letzte Dreck.«
    »Hab ich auch schon geschluckt.«
    »Na ja, und als wir gerade gehen wollen, fängt Pauli an,
sich zu beklagen, daß ihm irgendwas im Hals steckengeblieben
sei. Und auf einmal fängt er an, einen Haufen Dialoge aus Nicht Worte, sondern Taten von sich zu geben. Als
nächstes kriegen wir mit, daß er nicht mehr atmet; dann
liegt er im Foyer auf dem Boden und wälzt sich hin und her, und
dann ist er tot. Im Krankenhaus haben sie ein
halbaufgelöstes Stück von der Kapsel in seiner
Luftröhre gefunden. Nach den Sätzen zu urteilen, die er
gesagt hat, bevor er erstickt ist, muß es die Szene mit den
Schlafanzügen aus Schokolade gewesen sein.«
    »An die kann ich mich noch gut erinnern«, sagte ich
ruhig und schaute aus dem Fenster. Schneeregen schlug gegen das Glas.
In der Ferne spießten hohe, spitze Berge schmutziggraue Wolken
auf.
    Klick, klick: Torin öffnete die Verschlüsse
seiner Tasche. »Mein erster Impuls war, unser kleines Stück
auseinanderzupflücken und Paulis Rolle zu streichen, aber dann
stellte ich fest, daß euer Jonnie hier eine gespenstische
Ähnlichkeit mit unserem verstorbenen Kameraden hat. Also
beschloß ich, ihm eine Chance zu geben.«
    »Ich habe das Puschkin-Gedicht vorgetragen, das wir auf der
Farm immer gesungen haben«, erklärte Jonnie.
»›Wenn eine Regenwolke netzt des Baumes abgestorbne
Spreiten, sind schon die Tropfen giftdurchsetzt, die von dem Blatt zu
Boden gleiten.‹«
    »Er war sehr gut«, sagte Torin.
    »Ja, war ich«, pflichtete Jonnie ihm bei.
    Torin wühlte in der Tasche herum und holte ein Manuskript
ohne Titel heraus, das in Rindshahnleder gebunden war. »Bei den
Proben geht’s erst in den letzten drei Tagen hektisch zu«,
sagte er und gab Jonnie das Manuskript. »Wahrscheinlich
mußt du dann ein paar Kurse abbrechen.«
    »Ich bin kein Schüler«, entgegnete Jonnie, wobei er
den Griff seines Schwertes tätschelte.
    »Ach nein? Was führt euch dann ins Institut?«
    Mein Freund warf mir einen finsteren Blick zu, der besagte: Das kannst du ja beantworten.
    »Wir haben Grund zu der Annahme, daß Baron Kharsog
gewisse… äh… therapeutische Fähigkeiten
besitzt.«
    »Fähigkeiten, ja«, sagte Torin tonlos. »Aber
therapeutische? Da bin ich nicht so sicher. Kharsog zahlt
anständig für unsere Dienste, deshalb tun wir, was er von
uns verlangt. Ansonsten würde ich ihm genauso aus dem Weg gehen
wie jedem Kritiker.«
    Meine Nackenhaare richteten sich auf. Ich wollte gerade ansetzen,
meinen Beruf zu verteidigen, als Jonnie das Manuskript aufschlug und
laut vorlas: »›Die Zeit, in der das Stück spielt, sind
alle Zeiten zugleich, denn diese Legende existiert außerhalb
der Geschichte.‹«
    »Es ist eine neue Version des alten Thyestes-Mythos«,
erklärte Torin.
    »Ich verbinde Thyestes mit den terranischen Griechen«,
sagte ich bescheiden. »Aber ich weiß nicht mehr genau, wie
die Geschichte geht.«
    »Thyestes versündigt sich an Atreus. Ehebruch, wissen
Sie, in Verbindung mit einem Diebstahl. Atreus ruft also seinen
Küchenchef zu sich – das ist unser Jonnie – und
läßt den Kopf von Thyestes’ Lieblingskind zu einer
Pastete verarbeiten, die Thyestes dann zum Essen

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