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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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wurde von dem heftigen Verlangen gepackt, das Bild anzubeten.
Ja, davor auf die Knie zu fallen, es zu küssen, ihm jede
Verehrung zukommen zu lassen, die der Weihnachtsmann-Kult seiner
obersten Gottheit zuweist.
    Aber dann sah ich etwas anderes in dem Gesicht, eine geisterhafte
Verbindung nämlich, wie sie zwischen dem Bild eines Babys und
dem Erwachsenen besteht, den es vorausahnen läßt. Das
Fehlen künstlerischer Fähigkeiten bei den Lotosschluckern
erklärte die Diskrepanz, aber ich konnte jetzt erkennen, worauf
sie hinausgewollt hatten.
    Das Gesicht im Spiegel war das Gesicht des riesigen steinernen
Götzen auf dem unterirdischen Kontinent.
    Mit dieser Erkenntnis schmolz mein Wunsch dahin, die Statue
anzubeten, und ich sah klar und deutlich, woher dieser Wunsch
rührte. Obwohl die letzten Augenblicke des lauernden
Lügners noch immer in unzugänglichen seelischen Kerkern
eingesperrt waren, konnte man mit einiger Berechtigung vermuten,
daß sie einen Auftritt von Simon Kusk in der Rolle des
göttlichen Goth enthielten.
    Basil fauchte den Spiegel an.
    »Wer pflegt meinen Baum?« wollte Kusk jetzt wissen. Kaum
die Stimme eines Gottes. Sie war merkwürdig kindlich und klang
eher traurig. »Darf ich annehmen, daß Mr. Atropos Ihre
Pflichten übernommen hat?«
    Mach’s nicht zu kompliziert, Quinjin, ermahnte ich mich. Sei
ein wahrheitsliebender Longslapper und versuch nicht, den Mann etwas
vorzumachen. »Ich hatte gehofft, Sie wüßten
vielleicht, wo Mr. Atropos ist, Baron Kharsog. Ich habe ihn seit
über einem Jahr nicht mehr gesehen. Er ist vom
Zephapfel-Festival in Ganzir nicht mehr zurückgekehrt.«
    Als Kusk ernst wurde, verstärkte sich seine Ähnlichkeit
mit dem Götzen der Lotosschlucker. »Wir müssen
feststellen, ob die Polizei etwas weiß. Ganzir, sagten Sie? Auf
Zahrim?«
    »Ja. Ich habe sechs Leute beauftragt, die Plantage in meiner
Abwesenheit zu leiten. Keine Pflücker, das versichere ich Ihnen
– erstklassige Baumgärtner. Ich habe ihre Referenzen dabei,
um sie Ihnen vorzulegen.«
    Kusk wischte das mit einer Handbewegung vom Tisch. »Sagen Sie
mir, Mr. Longslapper: Wie geht’s meinem Kind?«
    »Oh, das ist ein ganz ungewöhnliches Exemplar, Baron.
Dicke, fleischige Äste, Früchte wie junge Brüste. Die
Rinde ist absolut makellos. Und es ist klug – in der
Pfahlwurzel steckt das beste Gehirn, das ich je bei einem Schlingbaum
gesehen habe.«
    Kusk strahlte kurz vor väterlichem Stolz, dann wurde er
wieder grimmig. »Mr. Atropos’ Verschwinden ist
äußerst besorgniserregend.«
    »Mir hat’s bestimmt Sorgen gemacht,
Sir.«
    »Wie haben Sie herausbekommen, wo ich bin?«
    »Durch die Hamadryade.«
    »Natürlich.«
    »Atropos ist nicht der einzige Mensch, um den ich mir Sorgen
mache.«
    »Ich weiß«, sagte Kusk.
    Ich weiß: ein kleiner, aber kostbarer Sieg. Ich hatte
angenommen, daß Kusk hochnäsig und unaufrichtig reagieren
würde, wenn ich das Problem mit Lilit zum erstenmal zur Sprache
brachte. Statt dessen hatte seine Antwort jedoch Ich weiß gelautet.
    »Was mag Atropos bei diesem Festival gewollt haben?«
    Ganz einfach: Er hat deine lauernden Lügner hinter
deinem Rücken verkauft. Aber was ich sagte, war:
»Bitte… meine Tochter. Ihre Mutter ist wahnsinnig vor
Sorge.« Ich erkannte, daß meine umgangssprachliche
Verwendung des Wortes wahnsinnig – so ungeplant und
heftig, wie es herauskam – nur dazu beitragen konnte, meine
Ehrlichkeit unter Beweis zu stellen. Und tatsächlich begann Kusk
jetzt auf die Sache einzugehen.
    »Wie ist das passiert?«
    »Sie wissen ja, wie Kinder sind – immer neugierig.«
Die Szenen, die ich Kusk ausmalte, deckten sich weitgehend mit der
Wahrheit: wie Lilit mit dem Schiff zur Insel fuhr… wie sie die
Höhle erforschte… wie sie den Ast entdeckte… wie sie
der Versuchung erlag, wobei sie keine Ahnung hatte, daß es sich
dabei um ›genau die Farm handelte, die ihren Vater monatelang
von zu Hause fernhielt‹.
    »Werden Sie sich meine Tochter ansehen?« winselte ich.
»Werden Sie das tun?«
    »Morgen früh wird Prill Ihre Familie in mein privates
Arbeitszimmer bringen. In der Zwischenzeit schlage ich vor, daß
Sie einen der Zephäpfel in Ihrer Suite essen. Dann haben wir
eine gemeinsame Basis. Sein Titel ist Die Zitadelle der Schmerzen. Er ist harmlos, das versichere ich Ihnen.«
    »Ich habe Die Zitadelle der Schmerzen schon vor langer
Zeit geschluckt.«
    Das stimmte. Ich hatte sie sogar für Francie Lern
rezensiert.
     
Die Zitadelle der Schmerzen (A.G.

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