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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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gefrorenes Elixier über dem Kamin, und sein
fischäugiger Blick umfaßte den Lesesessel, den Automaten
und drei Schlafzimmertüren. Gold und Juwelen blitzten an einem
ovalen Rahmen.
    Bevor Prill ging, versicherte er uns, daß der Zentaur unser
Gepäck in einer Stunde heraufbringen werde, wobei Jonnies
Schwert natürlich bis zu unserer Abreise konfisziert sei. Das
Versprechen wurde gehalten; der Zentaur kam sogar fünf Minuten
früher. Als er sich zum Gehen wandte, verkündete er, der
Schnupftabak im Automaten sei wirklich sehr gut. Woher willst du das
denn wissen, dachte ich.
    Ich vermißte Iggi.
    Beim Auspacken waren Urilla, Jonnie und ich beeindruckt davon, wie
ordentlich Prill seine Suche nach versteckten Waffen und anderen
niederträchtigen Dingen durchgeführt hatte. Alles war am
richtigen Platz, obwohl es ihm nicht gelungen war, alle Spuren seiner
Schnüffelei auszulöschen. Ich schlug das
Elektrobuch-Printout auf, in das ich absichtlich ein weißes
Lilit-Haar zwischen die Seiten 62 und 63 gelegt hatte. Es war
verschwunden. Ich schlug den Innenspiegel hinten auf und bemerkte
selbstgefällig eine Bleistiftnotiz, die EX LIBRIS FLICK
LONGSLAPPER lautete.
    Ich klappte das Buch zu und sah mir prüfend den Einband an.
Oben standen die Worte ›Die Traumdeutung von Sigmund
Freud‹. Der Lesesessel zeigte mir seine verlockende Weichheit.
Ich sah mir im Spiegel dabei zu, wie ich mich hinsetzte. Ich fing am
Anfang an.
    »Auf den folgenden Blättern werde ich den Nachweis
erbringen«, schrieb Freud, »daß es eine
psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten,
und daß bei Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als
ein sinnvolles Gebilde herausstellt, welches an angebbarer Stelle in
das seelische Treiben des Wachens einzureihen ist.«
     
    Es war Mitternacht, als der Spiegel zum erstenmal mit mir
sprach.
    Auf meinem Schoß lag die Traumdeutung. Ich hatte das
fünfte Kapitel aufgeschlagen und das Buch an Kater Basil
gelehnt. Freud berichtete über den Traum ›einer klugen und
feinen jungen Dame‹. Wie üblich entdeckte er nichts als
sexuelle Bedeutungen, und wie üblich fragte ich mich, was Freud
von einem Traum voller manifester Vaginas und unzweideutiger Penisse
halten würde; ich stelle mir gern vor, daß der kluge
Neurologe, der kein humorloser Mensch war, die Penisse zu
Spargelsymbolen erklärt hätte. »Mit diesem Traume trat
die Patientin in die psychoanalytische Behandlung ein«, schrieb
Freud. »Ich lernte erst später verstehen, daß sie mit
ihm das initiale Trauma wiederholte, von dem ihre Neurose
ausging.« Ich begann einzunicken.
    Freud machte ohne mich weiter. »Ich habe seither das gleiche
Verhalten bei anderen Patienten gefunden, die in ihrer Kindheit
sexuellen Attentaten ausgesetzt waren und nun gleichsam deren
Wiederholung im Traume herbeiwünschten.«
    Ich schlief. Jonnie lag in seinem privaten Schlafzimmer und
schlief ebenfalls, wie Urilla und Lilit in ihren.
    Zwei violette Augen rissen mich aus dem Schlaf. Ich schaute in den
Spiegel und sah ein lichtumflutetes Gesicht, das mich von einem
lichtumfluteten Rumpf herab anlächelte.
    »Hallo«, sagte ich.
    »Ich bin Baron Kharsog«, erwiderte das Bild.
    Simon Kusk entsprach keinem der mentalen Bilder, die ich mir in
den letzten beiden Jahren unvermeidlicherweise von ihm gemacht hatte.
Ich hatte so etwas wie eine gottlose Rhapsodie auf Clee Selig
erwartet. Ich hatte erwartet, Seligs Rohmaterial – seine
Demiurgengestalt, seine hohe Stirn – in einen Archetypus des
Bösen umgewandelt zu sehen. Aber nein. Das Gesicht, das ich sah,
war klein, aufgedunsen und quadratisch. Nichts wuchs darauf. Keine
Wimpern um die violetten Augen herum, keine Brauen über den
dicken Lidern, weder Haare noch irgendein Bart. In meinen Augen war
es kein bösartiges Gesicht, kein Gesicht, das der Beobachtung
von fleischlichen Sünden oder dem Feixen über geistige
Sünden verfallen war, und trotz der Vermittlung des
holographischen Mediums ergoß sich eine merkwürdige
Lebensfreude über mich. Alles in allem erinnerte das Gesicht an
nichts so sehr wie an einen glattrasierten Weihnachtsmann, den
menschenfreundlichen Elfenkönig, der alle Jahre wieder Geschenke
unter den nicht-intelligenten Bäumen jener seltenen und
dahinschwindenden Gemeinschaften ablegte, die noch Weihnachten
feierten.
    Zuerst nahm ich an, daß die Kusk-Weihnachtsmann-Verbindung
eine ausreichende Erklärung für das bizarre und
haarsträubende Ereignis war, das als nächstes kam.
    Ich

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